Xanthippe: Es ist doch vertrackt. Da mache und tue ich den ganzen Tag. Und am Abend weiß ich eigentlich gar nicht mehr, was ich alles gemacht habe. Ich fühle mich wie ein Hamster in seinem Rad – rastlos, getrieben, ohne jeden Sinn und Verstand. Es ist so nutzlos. Und in der Folge fühle ich mich elend, ausgelaugt und bin frustriert. Es ist zum Verzweifeln.
Sokrates: Kennst Du das Zitat von der Hildegard von Bingen: Die Kunst der Menschwerdung besteht darin, die Wunden in Perlen zu verwandeln?
Xanthippe: Ach Du mit Deinen klugen Sprüchen. Was soll mir das jetzt sagen? Wie kann mir der Spruch in meinem beschwerlichen Alltag weiterhelfen?
Sokrates: Gehen wir Schritt für Schritt vor. Fragen wir doch mal: Was bezweckst Du eigentlich mit Deinen ganzen Tätigkeiten? Warum machst Du das alles?
Xanthippe: Na, weil es sein muss!
Sokrates: Nun ja. Aber was ist Dein Motiv dahinter? Was treibt Dich an? Warum stehst Du jeden Tag wieder auf und gehst Deinen Tätigkeiten nach?
Xanthippe: Hm. Gute Frage. Ja was lässt mich jeden Tag aufs Neu in das Hamsterrad steigen? Ehrlich gesagt, das weiß ich gar nicht.
Sokrates: Dann lass mich mal versuchen, eine Antwort auf die Frage zu geben: Du möchtest etwas bewirken, etwas schaffen, eine Tätigkeit ausführen, die für Dich einen Sinn macht und bei der Du das Resultat mit einer gewissen Genugtuung betrachten kannst.
Xanthippe: Ja das stimmt! Ich möchte durch meine Arbeit etwas bewirken, etwas das für mich einen Sinn macht. Das mich erfüllt.
Sokrates: Ah! Das ist doch ein Motiv für ein Handeln. Das ist Deine Sehnsucht.
Xanthippe: Nur komme ich nie dazu. Immer fühle ich mich wie eine Getriebene. Ich mache und tue. Doch dabei fehlt mir einerseits die Übersicht, was das Ganze soll, und andererseits habe ich das Gefühl, die Arbeit endet nie.
Sokrates: Halt. Die Frage ist doch: Wie kannst Du Dein Handeln in den täglichen Situationen mit Deinem Motiv, mit Deiner Sehnsucht in Einklang bringen? Wenn Du darauf eine passende Antwort findest, dann hast Du Deine Wunde geheilt. Dann hast Du die Wunde in eine Perle verwandelt.
Xanthippe: Hm. Na ja. Mag sein. Doch das ist für mich alles viel zu abstrakt und theoretisch. Was heißt das jetzt für mich ganz konkret? Wie kann ich meine Wunde in eine Perle verwandeln?
Sokrates: Fragen wir doch mal: Was macht für Dich eine sinnvolle Tätigkeit überhaupt aus? Wann ist für Dich eine Tätigkeit sinnvoll?
Xanthippe: Nun ich brauche das Gefühl, dass ich mit meiner Tätigkeit einen Zweck erfülle, den ich als wichtig ansehe, der einen Wert für mich darstellt und der meinem Handeln einen Sinn gibt.
Sokrates: Ja einen Zweck erfüllen, oder wir können wohl auch sagen, dass Dein Handeln auf ein Ziel ausgerichtet ist.
Xanthippe: Ja gut, von mir aus. Doch wichtig erscheint mir dabei, dass ich für mich einen eigenen Sinn in meiner Tätigkeit sehe und dieses Ziel nicht von außen vorgegeben wird.
Sokrates: Genau. Denn verfolgst Du nur das äußere, vorgegebene Ziel, dann handelst Du wie eine Marionette, ohne innere Führung. Dann bist Du ein reiner Pflichterfüller. Hast Du jedoch darüber hinaus ein eigenes Ziel, das Du mit Deiner Arbeit verwirklichen willst, das Dich vorantreibt, dann wirst Du in Deinem Handeln eigenständig. Das Ziel gibt Deiner Arbeit einen Sinn und einen Zweck.
Xanthippe: Doch Vorsicht! Ich glaube das Ziel ist es nicht allein. Ich habe bei der Verwirklichung des Ziels auch auf mich selbst zu achten.
Sokrates: Ja das ist ganz wichtig. Wenn ich mein Handeln nach einem eigenen Ziel ausrichte, dann stürze ich mich leicht voller Schwung und Elan in die Arbeit. Und es ist eine großartige Erfahrung, wenn ich mein Ziel in meiner Arbeit erreiche. Das spornt an. Das beflügelt. Ich vollbringe Höchstleistungen.
Xanthippe: Doch ehe ich es mich versehe, bin ich wieder in einem Hamsterrad gefangen.
Sokrates: Nur sind es jetzt nicht die von außen vorgegebenen Ziele, die mich antreiben, sondern meine eigenen Ziele.
Xanthippe: Und das kann sogar noch viel verheerender für mich sein. Denn ich identifiziere mich mit meinem Ziel und möchte es möglichst perfekt erreichen.
Sokrates: Ja und in der Folge stecken wir immer mehr Energie in unsere Arbeit. Wir treiben selbst unser Hamsterrad immer schneller voran. Dann habe ich einen eigenen Sinn für mein Handeln, und voll motiviert beschleunige ich das Rad, um ein möglichst perfektes Resultat zu erreichen. Und ist eine Aufgabe erledigt, dann stärkt mich das und ich stürze mich begierig auf die nächste Aufgabe.
Xanthippe: Ja mein Ziel treibt mich immer weiter voran, richtet mich immer mehr aus.
Sokrates: Schließlich kenne ich nur noch meine Arbeit, verfolge meine Ziele – bis ich an den Punkt komme, dass mich meine selbstgesteckten Ziele und mein Perfektionismus überfordern. Das wirkt wie ein Hammerschlag. Dann geht auf einmal gar nichts mehr. Dann werde ich zum Opfer meines eigenen Anspruchs und fühle mich auf einmal ausgezehrt, leer und elend. Burnout.
Xanthippe: Doch wie kann ich diese Entwicklung vermeiden. Für die Arbeit ein eigenes Motiv zu haben ist doch erst einmal eine ganz großartige, eine befreiende Sache. Nur wie kann ich es verhindern, zum Opfer meiner eigenen Motivation zu werden?
Sokrates: Ja einerseits brauchen wir ein eigenes Ziel, ein Motiv für unsere Arbeit. Dieses Ziel gibt uns unseren Berufsethos. Damit machen wir keinen Dienst nach Vorschrift, sondern haben ein ganz eigenes Interesse daran, mit unserer Arbeit ein gutes Resultat zu erreichen. Darüber hinaus haben wir aber bewusst auf uns selbst zu achten. Wir haben selbst dafür zu sorgen, dass wir das Ziel erreichen, so dass es für uns passt.
Xanthippe: Du meinst, wenn wir uns von unseren Emotionen treiben lassen, also wie toll und wie großartig wir die Aufgaben erledigen, dann motiviert uns das zwar zu Höchstleistungen, doch wir verlieren dabei allzu leicht den Blick für uns selbst.
Sokrates: Genau. Dieses tragende Gefühl wird oft als „Flow“ bezeichnet. Wir machen und tun, was die Aufgabe erfordert. Engagieren uns, wachsen über uns hinaus, fühlen uns großartig. Doch dabei sind wir ganz von den Emotionen getrieben. Um jedoch wirklich eigenständig zu sein, brauchen wir ein bewusstes Vorgehen, mit dem wir unsere Ziele erreichen können.
Xanthippe: Hm, was meinst Du denn mit einem bewussten Vorgehen?
Sokrates: Ja wichtig ist, dass wir für das Erledigen unserer Aufgabe einen passenden Weg finden, den wir nach unseren eigenen Vorstellungen beschreiten können und das erzielte Resultat dabei sowohl für uns als auch für unser Umfeld passt.
Xanthippe: Oh ja! So sag mir, wie geht das?
Sokrates: Die entscheidende Frage ist: Wie können wir unser eigenes Ziel bei der gestellten Aufgabe gut erreichen?
Xanthippe: Du meinst, wir fangen bei einem gesetzten Ziel nicht sofort an zu machen und zu tun, sondern fragen uns zuvor, wie wir den Weg zum Ziel erfolgreich beschreiten können?
Sokrates: Genau. Wenn wir uns bei einem gesetzten Ziel sofort in die Arbeit stürzen, dann ist der Wille unsere treibende Kraft. Den Willen wollen wir durchsetzen.
Xanthippe: Ja so sagt es doch schon das Sprichwort: Der Wille versetzt Berge.
Sokrates: Nun ja, den Willen braucht es natürlich schon. Doch allzu häufig steht uns unser Wille für das Erledigen einer Aufgabe geradezu im Weg. Dann ist unsere ganze Aufmerksamkeit nur auf das Ziel gerichtet, auf das, was wir erreichen möchten. Damit unser Vorhaben jedoch erfolgreich wird, brauchen wir eine konkrete Vorstellung wie wir die einzelnen Schritte auf dem Weg gehen können, so dass sie uns gut zum Ziel führen.
Xanthippe: Ah, Du meinst wir haben unsere Aufmerksamkeit mehr auf die Gestaltung der einzelnen Schritte zu richten.
Sokrates: Genau. Wir haben die Schritte nicht bloß zu „erledigen“ und möglichst schnell hinter uns zu bringen, sondern jeder einzelne Schritt ist ganz bewusst zu gehen.
Xanthippe: Und wie kommen wir für eine konkrete Aufgabenstellung zu dieser Vorstellung?
Sokrates: Das geht in mehreren Schritten. Zuerst brauchen wir eine Aufgabe, die wir erledigen wollen. Und, wenn es sich um eine größere Aufgabe handelt, zerlegen wir sie in mögliche Teilaufgaben. In dem nächsten Schritt greifen wir eine Teilaufgabe auf und erledigen die damit verbundene Arbeit. Anschließend betrachten wir das Resultat und prüfen, ob und wo noch Anpassungen und Änderungen erforderlich sind. Daraus ergeben sich neue Teilaufgaben. Die Aufgaben priorisieren wir und planen, wie wir sie erledigen können. Dann greifen wir die nächste Aufgabe auf und arbeiten sie ab. Das Resultat betrachten wir wieder, prüfen es, planen den nächsten Schritt und führen ihn aus. Der ganze Prozess wird solange durchlaufen, bis das Ergebnis soweit passt, dass keine weiteren Änderungen mehr erforderlich sind. Dann ist die Aufgabe erledigt. Für den Prozess ergibt sich folgendes Bild:
Xanthippe: Ja schön. Jetzt haben wir einen Prozess, wie ich meine Aufgabe erledigen kann. Doch was ist dabei gewonnen? Der Prozess ist doch auch zyklisch. Das ist doch nur ein weiteres Hamsterrad!
Sokrates: Ja der wesentliche Vorteil dieses Prozesses, besteht darin, dass er uns eine Struktur in unserem Vorgehen bietet und wir die einzelnen Schritte von einer klaren Vorstellung geleitet ausführen können. In jedem Prozessschritt haben wir ein klares Ziel, das wir erreichen möchten. So gleicht das Vorgehen vielleicht auch einem Hamsterrad, doch wir können bewusst das Tempo und den Takt vorgeben, mit dem wir das Rad drehen.
Xanthippe: Ach ich weiß nicht. Was bedeutet dieses bewusste Vorgehen? Wie steht das im Zusammenhang mit meinem Berufsethos?
Sokrates: Wir haben einmal die Aufgabe, die es zu erledigen gilt. Die ist von außen vorgegeben. Daneben hast Du Deine ganz eigene Zielvorstellung, was Du Dir vom Erledigen der Aufgabe versprichst. Und Deine Zielvorstellung, die bestimmt nun, wie Du in den einzelnen Schritten vorgehst.
Xanthippe: Oha. Dabei habe ich sicher gut darauf zu achten, dass unser eigenes Ziel auch wirklich zu der gestellten Aufgabe passt. Dass es nicht überhöht ist, sondern uns eine sichere, konkrete und taugliche Ausrichtung in jedem der einzelnen Prozessschritte liefert.
Sokrates: Ja unser eigenes Ziel muss ganz konkret und einfach sein. Dafür haben wir unsere Sehnsucht spezifisch für die vorliegende Aufgabe herunterzubrechen und auszurichten. Denn wir haben uns davor zu hüten mit unserem Ziel irgendwelchen Wunschvorstellungen nachzujagen, die dem Erledigen der Aufgabe mehr im Wege stehen, als förderlich zu sein.
Xanthippe: Mir fällt auf, die einzelnen Prozessschritte erfordern ganz unterschiedliche Eigenschaften von mir – einmal mache ich etwas, dann betrachte ich es, prüfe es und plane den nächsten Schritt.
Sokrates: Ja aber es braucht das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Eigenschaften, damit Du die gestellte Aufgabe erfolgreich erledigst und Du dabei gleichzeitig Dein eigenes Ziel erreichst.
Xanthippe: Ich dachte immer, dafür braucht es eine Aufgabenteilung: also der eine macht, der nächste betrachtet, ein weitere kritisiert und noch ein anderer plant.
Sokrates: Doch bei dieser Arbeitsteilung erniedrigst Du Dich selbst zum Rad im Getriebe und verlierst den Gesamtblick für die Aufgabe aus den Augen. Indem wir diese unterschiedlichen Prozessschritte alle für uns selbst oder zusammen in einer kleinen Gruppe ausführen, behalten wir den Überblick und sorgen selbst dafür, dass ein gutes Resultat erzielt wird.
Xanthippe: Du meinst, mit diesem Prozess spielt das Erledigen der Aufgabe und das Erreichen meines eigenen Ziels konstruktiv Hand in Hand?
Sokrates: Genau. Und Du bist selbst der Motor in dem Prozess! Du hast dafür zu sorgen, dass sich das Hamsterrad so schnell dreht, wie Du es willst, so dass für Dich das Resultat in den einzelnen Schritten passt und Du die gestellte Aufgabe erledigst.
Xanthippe: Und dieses Vorgehen hält auch den Perfektionismus im Griff?
Sokrates: Dafür habe ich die einzelnen Teilaufgaben so zu identifizieren, dass ich sie gut erledigen kann, ohne dabei überfordert zu sein. Und wenn ich anschließend das Ergebnis betrachte, und feststelle, dass die Aufgabe noch nicht fertig ist, dann erledige ich das halt in dem nächsten Prozesszyklus.
Xanthippe: Und wie vermeide ich, dass dabei das Hamsterrad oder meine Ziele wieder die Führung übernehmen?
Sokrates: Dafür richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Tätigkeit in den einzelnen Prozessschritten und nehmen die erzielten Ergebnisse bewusst wahr.
Xanthippe: Aha. Und in dem wir die einzelnen Prozessschritte bewusst, nach meinen eigenen Möglichkeiten gestalten, erledigen wir auch die gestellte Aufgabe.
Sokrates: Ja. Und dabei ist dieser Prozess für die unterschiedlichsten Arten von Aufgaben geeignet – sei es nun, um einen Entschluss zu fassen, eine Frage zu klären, Ziele zu definieren, oder etwas zu machen und in die Realität zu bringen.
Xanthippe: Ganz nach persönlicher Fähigkeit
Sokrates: und entsprechend der individuellen zentralen Sehnsucht, dem seelischen Bedürfnis.
Xanthippe: Und auf diese Weise bringe ich meine eigene Sehnsucht in den täglichen Aufgaben selbst zu einem Ausdruck. So kann ich selbst meine Wunden in Perlen verwandeln.
Sokrates: Dazu fällt mir noch eine Geschichte ein:
Geschirr spülen
Es fragte ein Schüler seinen Lehrer, Rabbi Shmelke von Nikolsburg, wie er Gott am besten dienen könne. Dieser schickte ihn zu Abraham Hayyim, einem anderen Rabbi, der ein Gasthaus führte: Das sei ein weiser und heiliger Mann. Der Schüler ging zu diesem Gasthaus, nahm ein Zimmer und blieb mehrere Wochen. Er gab sich alle Mühe, dem Geheimnis dieses heiligen Mannes auf die Spur zu kommen. Aber ihm fiel nichts Besonderes auf. Er sah einen ganz gewöhnlichen Menschen, der all die ganz gewöhnlichen Arbeiten vollrichtete, die in einem Gasthaus anfallen.
Schließlich wollte er es wissen und fragte Rabbi Abraham, was er denn eigentlich den ganzen Tag über so tue.
„Meine wichtigste Aufgabe“, antwortete dieser, „ist, das Geschirr immer sauber zu spülen. Ich sorge dafür, dass auf den Tellern und Tassen keine Spuren zurückbleiben. Und ich putze die Töpfe und Pfannen, damit sie nicht rosten.“
„Ist das alles?“, fragte der Schüler erstaunt.
„Ja, das ist alles“, antwortete der Gastwirt.
Der Schüler kehrte enttäuscht zu seinem Lehrer zurück und erzählte ihm, was er erlebt hatte. Darauf sagte der Rabbi Shmelke: „Jetzt weißt du alles, was du wissen musst.“
Lorenz Marti, Wie schnürt ein Mystiker seine Schuhe, Herder 2006
Xanthippe: Ach was erzählst Du denn da für Geschichten Sokrates! Das soll alles sein? Einfach Geschirr spülen? Da hatte ich schon mehr erwartet. Irgendetwas Spirituelles, etwas Großartiges und Herausragendes.
Sokrates: Halt! Diese Erwartungshaltung ist ein großes Hindernis. Sie verhinderte, dass der Schüler wahrnehmen konnte, wie der Rabbi das Geschirr spülte. Wie er den ganzen Abwasch zelebrierte. Wie sorgsam er die Teller und Tassen behandelte. Wie er gewissenhaft prüfte, ob das Geschirr wirklich sauber war. Sicher wollte der Rabbi die Teller und Tassen alle wieder sauber im Schrank haben, doch er machte die Tätigkeit des Spülens selbst zu einem Ausdruck seiner Persönlichkeit. Und mit dieser Einstellung konnte er das Gasthaus gut führen.
Xanthippe: Ach so. Na, da bin ich natürlich noch weit von entfernt. Aber ich überlasse Dir gerne die Küche als Dein persönliches Trainingsfeld.