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Vielfalt im Einklang

Unser Leben ist durch Polaritäten geprägt: Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Richtig und Falsch. Dabei beziehen wir in unseren täglichen Situationen meistens eine Position, einen Pol und sind bestrebt, diesen im Miteinander möglichst gut durchzusetzen, unsere Mitmenschen von unserer Position zu überzeugen. Doch auch die anderen Menschen habe ihre Positionen, die sie vertreten und die durchaus mit unseren Vorstellungen nicht übereinstimmen müssen. Und das führt häufig zu heftigen Diskussionen und Debatten, zu Streitereien und kriegerischen Auseinandersetzungen. Dann ist das ganze Miteinander maßgeblich durch ein Gewinner-Verlierer-Denken bestimmt, aus dem allzu oft eine innere Unzufriedenheit entsteht. Dabei ist es eine große Sehnsucht bei uns Menschen, die Gegensätze zu überwinden und ein Leben in einem aufbauenden Miteinander zu führen. Das wussten schon die alten Griechen. Schon Heraklit sagte:

Die schönste Harmonie entsteht durch das

Zusammenwirken der Gegensätze.

Heraklit

Doch wie soll das funktionieren? Wie können wir unsere Gegensätze überwinden? Wie kommen wir zu einem konstruktiven Zusammenwirken, in dem sich unsere unterschiedlichen Vorstellungen und Persönlichkeitseigenschaften konstruktiv ergänzen? Wie bringen wir unsere menschliche Vielfalt in einen Einklang? Und wie entsteht dabei eine Harmonie? In dem Artikel werden diese Fragen aufgegriffen und zu einer Antwort gebracht.

Apollon und Dionysos

Auf die Polaritäten treffen wir bereits bei den griechischen Göttern: etwa bei Apollon, dem Gott des Lichtes, des Verstandes, der Ordnung und der Kunst sowie bei Dionysos, dem Gott der Lebensfreude, des Weins, der Gefühle und der Schöpferkraft.

Ja Apollon und Dionysos wirken in ihren entgegengesetzten Persönlichkeitseigenschaften völlig unvereinbar. Doch schauen wir genauer, dann treffen wir auf Polaritäten auch im Wesen der beiden Götter:

So lebt Apollon im Lichte, dem Irdischen entrückt, ganz in der Welt der Gedanken, der Ordnung und der Künste. Doch dabei zeichnet ihn auch eine Strenge und Schärfe aus gegenüber allem Fehlerhaften und Unvollkommenen in dieser Welt. Dagegen ist Dionysos geprägt durch seine Lebensfreude, dem Genuss, dem Wein und ist zugleich ein Opfer des Weltlichen, mit all seinen Lastern, seinen Trieben, dem Chaos und dem Wahn.

Dabei mag Apollon durchaus neidvoll auf die Lebensfreude des Dionysos schielen und Dionysos ebenso sehnsuchtsvoll auf die Ordnung des Apollon blicken. Denn, bei all ihrer Verschiedenheit, stoßen sich die beiden Pole nicht nur ab, sie ziehen sich auch an.

Die Geburt der Tragödie

Schon bei den alten Griechen war es eine Idealvorstellung, dass Apollon und Dionysos sich zusammenraufen, um durch ihr Zusammenwirken das Leben auf der Erde zu bereichern. Doch wie ist ihnen das gelungen? Friedrich Nietzsche sah das konstruktive Zusammenwirken der beiden Götter in der Geburt der Tragödie, der im alten Griechenland eine große Rolle zur Unterhaltung der Bevölkerung zukam.

Ja in der Tragödie wird der Klarheit eines Gedankens ein schöpferischer, lebensfreudiger und zugleich geordneter Ausdruck gegeben. Da wirken Apollon und Dionysos zusammen – zur Freude und Unterhaltung der Menschen. Ja die Tragödie reißt uns Menschen heraus aus der Ödnis und Schwere des täglichen Daseins in eine Scheinwelt, die uns erfreut und dadurch unser Leben erträglicher macht. Denn die Tragödie zeigt, dass es Situationen gibt, die schlimmer sind als unser eigener Alltag. Und das wirkt auf uns befreiend, so können wir unsere täglichen Probleme irgendwie leichter nehmen, ohne sie allerdings zu einer Lösung gebracht zu haben.

Doch halt! Was haben wir hier? Hier wird durch das Überwinden der Polarität zwischen Apollon und Dionysos eine neue Polarität geschaffen – zwischen dem Leben, das wir als eine ernste, leidvolle, mühsame Plage betrachten, und der Kunst, die wir als einen geordneten Ausdruck des Lebendigen, der Freude und der Ekstase ansehen. Es ist die Polarität zwischen dem, was wir wollen, das für uns attraktiv und erstrebenswert erscheint und dem, was wir nicht wollen, das wir als lästig und störend empfinden. So haben wir die Polarität aus dem Inneren der beiden Götter, aus ihren unterschiedlichen Persönlichkeitseigenschaften nach Außen, in die Situation gebracht.

Doch indem wir uns mehr und mehr auf den einen Pol ausrichten, auf das, was wir wollen, verlieren wir den Gegenpol mehr und mehr aus den Augen. Dabei haben Polaritäten die Tendenz, sich gegenseitig zu verstärken: indem wir uns auf das „Gute“ fixieren, stärken wir – unbewusst – auch das „Böse“ – sei es etwa, dass die Mitmenschen unsere „Gute Tat“ geringschätzen, sie als selbstverständlich hinnehmen oder sie einseitig für ihre Zwecke ausnutzen.

Polaritäten beherrschen unser Leben

Doch wie können wir die Polaritäten überwinden? Wie können wir eine Ordnung in das Leben bringen, die unsere täglichen Situationen direkt bereichert? Wie kann das Geistige, für das bei den alten Griechen der Apollon steht, unser irdisches Leben bereichern, das durch Dionysos symbolisiert ist? Wie gelangen wir zu einer befreienden Ordnung, die für uns wirklich attraktiv ist und die unsere Lebensfreude weckt und stärkt?

Schauen wir in die Natur

Die Natur macht es uns vor. In den Symbiosen treffen wir auf ein konstruktives Zusammenwirken zwischen verschiedenartigen Lebewesen. Betrachten wir ein konkretes Beispiel: Die Symbiose der Ameisen mit den Blattläusen:

Blattläuse sind kleine Insekten, die auf Pflanzen leben und sich von den kohlehydratreichen Pflanzensäften ernähren. Mit ihren Mundwerkzeugen stechen sie in die Stängel und Blätter, um den Saft aufzusaugen. Nahrung bietet ihnen dabei vor allem die in den Säften enthaltenen Aminosäuren, sodass bei der Verdauung eine große Menge an Zucker und Wasser übrigbleibt, der so genannte Honigtau, der als klebrige Schmiere auf den Pflanzen haften bleibt. Und hier kommen die Ameisen ins Spiel: Mit ihren Fühlern berühren die Ameisen die Blattläuse, damit sie den süßen Honigtau abgeben. Die Ameisen sammeln den Tau in ihrem Kropf, um ihn dann in ihr Nest zu transportieren. Man spricht auch davon, dass die Ameisen die Blattläuse „melken“.

Im Gegenzug werden die Blattläuse von den Ameisen vor Fressfeinden geschützt, insbesondere vor Insekten. Sobald andere Tiere sich den Blattlauskolonien nähern, werden sie von den Ameisen angegriffen und vertrieben.

Die Ameisen bieten den Blattläusen einen Schutz vor Feinden, während sich die Blattläuse von den Ameisen „melken“ lassen. So haben beide Arten einen direkten Nutzen von dieser Lebensgemeinschaft.

Hinterfragen wir die Symbiose mit unserem menschlichen Bewusstsein:

Die Tiere folgen in der Symbiose einem instinktiv angelegten Programm. Doch wir Menschen können unser Miteinander nur sehr eingeschränkt nach dem Instinkt ausrichten. Stattdessen haben wir unser Bewusstsein. Wir können uns ganz gezielt fragen: Wie können sich unsere Gegensätze, unsere unterschiedlichen Persönlichkeitseigenschaften und Meinungen, in einem gelingenden Zusammenwirken ergänzen?

Die Grundvoraussetzung für eine Symbiose ist es, ein Interesse an der tatsächlichen Situation und dem jeweils anderen zu entwickeln. Wir haben das Gegenüber zu betrachten, seine Fähigkeiten wahrzunehmen und uns die Frage zu stellen: Wie kann der andere mir mit seinen Fähigkeiten helfen? So mag sich eine Ameise fragen: wie kann die Blattlaus mir behilflich sein? Und auch die Blattlaus fragt sich: wie kann mir die Ameise helfen? Und dabei erkennt die Ameise, dass ihr der Honigtau eine gute Nahrung bietet. Und die Blattlaus erkennt, dass die Ameisen sie vor Fressfeinden schützen kann.

Doch damit die Symbiose gelingt, hat die Blattlaus zu erkennen, dass sie den Honigtau abzusondern hat, wenn die Ameise sie mit ihren Fühlern berührt. Und ebenso hat die Ameise zu erkennen, dass sie die Blattlaus vor Fressfeinden zu schützen hat, da sie ja sonst keinen Honigtau mehr melken kann. Beide haben ihr Verhalten zu hinterfragen und anzupassen, so dass im Miteinander ein konstruktives Zusammenwirken entsteht. Doch beide sind zu diesen Zugeständnissen gerne bereit, in Anbetracht des Vorteils, den sie daraus erhalten.

Schön. Jetzt haben wir eine logische Erklärung für die Symbiose bei den Ameisen und den Blattläusen herausgearbeitet. Doch was bedeutet das jetzt für uns Menschen? Wie können wir unsere Gegensätze zu einem kooperativen Miteinander ganz konkret zusammenbringen?

Das Zusammenwirken von Apollon und Dionysos

Betrachten wir Apollon und Dionysos. Damit sich die beiden mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeitseigenschaften zusammenraufen, braucht es etwas, das sie gemeinsam gestalten möchten, ein gemeinsames Thema oder eine gemeinsame Fragestellung. Etwas, das sie verbindet, das sie beide wollen, bei dem aber jeder sein ganz eigenes Interesse an einer Lösung hat. Und haben wir diese Frage herausgearbeitet, so ist dafür im konstruktiven Miteinander eine attraktive Antwort zu entwickeln. Dabei bringt jeder der beiden seine ganz individuellen Fähigkeiten ein, die dann gemeinsam hinterfragt, geprüft und angepasst werden, so dass ein attraktives, verbindendes Lösungsbild entsteht. Die folgende Abbildung veranschaulicht das Vorgehen:

  1. Zuerst ist die verbindende Eingangsfrage zu finden, für die alle Beteiligte eine Antwort entwickeln möchten.
  2. Dann schöpfen wir für die Frage eine Antwort. Dabei bringen sich die Beteiligten mit ihren eigenen Vorstellungen ein, die gemeinsam geprüft und angepasst werden,
  3. so dass ein Lösungsbild entsteht, das wir betrachten.
  4. Das Bild ist zu prüfen und neue Detailfragen, Unklares und Zweifel zu identifizieren.
  5. Ist das Bild gut, dann haben wir die Antwort, und der Prozess ist beendet.
  6. Andernfalls ist zu planen, welche der offenen Detailfragen in dem nächsten Zyklus aufgegriffen und zu einer Antwort gebracht wird. Dann geht es wieder weiter mit Punkt 2.

Der Kreisprozess wird solange durchlaufen, bis ein klares Bild entstanden ist, bis alle wesentlichen Fragen beantwortet sind, bis eine attraktive Lösung geschaffen ist, nach der wir unser Handeln ausrichten können. So wird im schöpferischen Zusammenwirken eine Antwort auf die Frage entwickelt, die für die Situation eine neue Perspektive, eine neue Ordnung schafft.

Anders ausgedrückt wirken hier Apollon und Dionysos konstruktiv zusammen: durch die gestellte Frage aktiviert der Dionysos die Schöpferkräfte und durch den Verstand des Apollon entsteht eine neue, befreiende Ordnung in der Situation, die die Lebensfreude stärkt. Gleichzeitig wird dabei die Schärfe und Strenge des Apollon überwunden sowie die Ausschweifungen, die Ekstase und der Wahn des Dionysos in Grenzen gehalten.

Als Resultat werden die Polaritäten zwischen den beteiligten Personen aufgelöst und eine verbindende Ordnung geschaffen. Dabei erfasst die Personen eine gelöste Heiterkeit, wenn sie merken, wie sie durch ihr Zusammenwirken eine attraktive Antwort auf die gestellte Frage schöpfen. Außerdem entsteht ein verbindendes Einheitsgefühl, eine Harmonie zwischen den Personen und der neu ausgerichteten Situation – die Liebe.

Leben im Einklang

Polaritäten werden überwunden, indem wir für unsere täglichen Fragen im konstruktiven Zusammenwirken attraktive Lösungen entwickeln. So werden wir zu Schöpfern des Alltags. Und das belebt. Das gesamte Leben wird freudiger, bunter, leichter, gelöster und gleichzeitig aktiver und erfolgreicher. Im Bewusstsein der Lösung entsteht Liebe und Heiterkeit, unsere Lebenskräfte werden gestärkt, unsere verborgenen Fähigkeiten und Möglichkeiten befreit und wir werden vital und aktiv.

Als Resultat entsteht eine neue Kultur des Miteinanders – indem wir bereichernde Lösungen für unsere täglichen Fragen schöpfen, die eine verbindende Perspektive für die konkreten Situationen bieten, die eine tragende und befreiende Ordnung etablieren, die jeden der Teilnehmer aufbauen, die einen Einklang, ein Zusammengehörigkeitsgefühl vermitteln, und mit denen wir das Gewinner-Verlierer-Denken überwinden können. Es ist an der Zeit!