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Das Wesentliche ist einfach

Das Wesentliche ist die universelle Gesetzmäßigkeit, der universelle Gedanke, der eine Situation oder ein Lebewesen prägt. (siehe auch: Was ist das Wesentliche?) Es ist der innere Quell, der unserem Leben Fülle gibt, der uns täglich wieder aufstehen lässt, der uns die Kraft verleiht, unsere Aufgaben zu erledigen und uns die Lebensenergie spendet. Dabei ist das Wesentliche nichts Kompliziertes, nichts Großartiges oder Herausragendes. Das Wesentliche ist einfach. So einfach, dass wir Menschen es in der Regel gar nicht bewusst wahrnehmen. Dass wir es oft als etwas ganz Selbstverständliches hinnehmen, ihm gar keine Beachtung schenken und ignorieren. Denn das Wesentliche drängt sich nicht auf, spielt sich nicht in den Vordergrund. Es ist einfach da. Ganz selbstverständlich. Und so kommt es im Trubel und der Geschäftigkeit unseres Alltags oft gar nicht zu einem freien Ausdruck.

Das Wesentliche ins Leben bringen

Doch wollen wir das Wesentliche in unserem Leben erkennen, es uns bewusst machen und unser Leben gezielt danach ausrichten, dann stellen wir fest: die Sache ist gar nicht so einfach. Denn das Wesentliche unseres Menschseins wird überschattet durch all unser Wissen, durch all unsere Vorstellungen und unserem Intellekt – also von all unseren eigenen Ansichten, wie wir meinen, dass eine Situation, dass unser Leben zu gestalten sei. Doch diese Eigenschaften prägen unser Verhalten nur vordergründig. Dagegen wirkt das Wesentliche aus der Tiefe unseres Innern, es ist die Kraft, die hinter unseren ganzen Meinungen und Ansichten steht. Doch wir kennen das Wesentliche meistens gar nicht. Und deshalb können wir ihm auch gar nicht bewusst den Raum geben, sich zu entfalten und frei zu wirken. Dann wirkt das Wesentliche im Verborgenen. Im Stillen. Und so ist durchaus ein gewisser detektivischer Spürsinn erforderlich, um das Wesen eines Menschen herauszufinden.

Leichter geht es bei Tieren oder Pflanzen. Denn die Tiere bringen ihr Wesen durch ihren Instinkt recht unmittelbar zu einem Ausdruck und die Pflanzen durch ihre inneren genetischen Programme. Jetzt haben wir Menschen mit unserem Bewusstsein die großartige Fähigkeit, das Wesen erkennen zu können. Und haben wir das Wesentliche in einem Tier oder in einer Pflanze aufgespürt, dann können wir uns die Frage stellen, was diese Wesenheit für uns selbst bedeutet. Ob und wie dieses Wesen unser eigenes Sein prägt. Dabei wirkt die Pflanze oder das Tier wie ein Spiegel, in dem wir uns betrachten können, und der uns einen Zugang zu unserem eigenen Wesen verschafft. Das wusste schon Friedrich Schiller:

Suchst du das Höchste, das Größte?

Die Pflanze kann es dich lehren.

Was sie willenlos ist, sei du es wollend –

das ist’s.

Friedrich Schiller

Doch betrachten wir ein konkretes Beispiel:

Das Gänseblümchen

Wer kennt es nicht, das Gänseblümchen. Vom zeitigen Frühjahr an bis in den Spätherbst blüht es ausdauernd in unseren Gärten, Wiesen und Parks, in Feld und in Flur. Schauen wir uns die Pflanze genauer an:

Die Blätter des Gänseblümchens bilden eine auf dem Boden liegende Blattrosette aus, von der sich einzelne, dünne, blattlose Stängel erheben, an deren Ende jeweils eine Knospe sitzt, die sich zur Blüte entfaltet.

Die Blüte besteht aus einem kreisrunden, gelben Blütenkorb, der aus vielen einzelnen, röhrenförmigen Blüten besteht. Der Korb ist von zahlreichen weißen mitunter leicht rötlichen Blütenblättern umrandet, die strahlenförmig nach außen zeigen.

Vom äußeren Rand ausgehend, zur Mitte hin vordringend, erblühen die einzelnen Blüten in dem gelben Korb. Sind alle Blüten verblüht, dann fallen die weißen Blätter ab, der Korb wird grün und wölbt sich zu einem Kegel auf, in dem die Samen ansetzen.

Gänseblümchen blühen bei Sonnenschein und richten sich nach der Sonne aus. An heiteren Tagen strecken sich die Blüten des Morgens nach Osten, des Mittags nach Süden und des Abends nach Westen. Des Nachts, im Schatten oder bei regnerischem Wetter schließt sich die Blüte. Dann richten sich die weißen Blütenblätter auf und ziehen sich wie ein Schirm zusammen, so dass sie den gelben Korb verdecken. Kommt die Sonne zum Vorschein, so öffnen sich die Blüten wieder.

Das Gänseblümchen ist einfach

Das Gänseblümchen ist anspruchslos. Es wächst einfach überall, wo wir Menschen, die Kühe, Schafe oder Ziegen den Rasen kurz halten. Diese Allgegenwärtigkeit führt allerdings oft dazu, dass wir das Gänseblümchen gar nicht wahrnehmen und achtlos auf ihm rumtreten. Doch das Gänseblümchen ist widerstandsfähig. Weder der Rasenmäher noch die weidenden Kühe oder unsere Fußtritte machen der Pflanze etwas aus. Denn immerzu wachsen neue Stängel mit frischen Blüten aus der Blattrosette.

Dieser unbeugsame Blühwille scheint mir das Wesentliche des Gänseblümchens zu sein. Und dabei blüht es ganz selbstverständlich, ganz zuverlässig. Es ist einfach. Es bläht sich nicht auf, drängt sich nicht in den Vordergrund und will nicht beachtet sein. Das Gänseblümchen blüht – und bringt dabei eine heitere, eine freudige Leichtigkeit und Schönheit zum Ausdruck. Kinder spüren das. Sie mögen das Gänseblümchen, pflücken Sträuße, binden sich Kränze ins Haar, und die größeren Kinder zählen an ihren Blütenblättern ab, ob der ersehnte Mensch sie liebt oder nicht: „Er liebt mich, er liebt mich nicht … er liebt mich?!“

Diese heitere Einfachheit des Gänseblümchens ist nichts aufgesetztes, sie ist nicht das Resultat eines äußeren Ereignisses. Die Heiterkeit kommt von Innen, sie tritt hervor, wenn das Blümchen sein inneres Wesen, seine innere Natur – also den Blühwillen – zu einem freien, zu einem einfachen Ausdruck bringen kann.

Was uns das Gänseblümchen zu sagen hat

Wir können die Einfachheit des Gänseblümchens auf unser Menschsein übertragen. Wir können uns als Ziel setzen, die Einfachheit unseres eigenen Wesens zu ergründen, um es in unserem Leben auf eine leichte, heitere und einfache Art zum Ausdruck zu bringen. Dabei ist das eingehende Betrachten von Pflanzen oder Tieren sehr hilfreich.

Doch zur Warnung sei gesagt: In diesem Sinne einfach zu sein, ist alles andere als einfach. Es erfordert eine gute Kenntnis des eigenen Wesens sowie die Entwicklung eines klaren Bewusstseins, wie wir unser Wesen in den täglichen Situationen zu einem selbstverständlichen und angemessenen Ausdruck bringen können. Indem wir diese Vorstellung Schritt für Schritt herausarbeiten und vervollkommnen, können wir unsere störenden Ansichten und Meinungen mehr und mehr loslassen. Als Resultat tritt unser Wesen immer freier in den Vordergrund und prägt unser Sein. (Siehe auch: Werde, der du werden kannst) Das Vorgehen erfordert durchaus einen längeren Reifeprozess. Auch das wusste bereits Friedrich Schiller:

Einfachheit ist das Resultat der Reife.

Friedrich Schiller

Quellen:

Jiddu Krishnamurti: Das Wesentliche ist einfach, Herder Verlag, Freiburg, 2011

Der Titel dieses Buches gefällt mir so gut, dass ich ihn gleich für diesen Artikel übernommen habe. Allerdings haben Jiddu Krishnamurti und ich sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie wir das Wesentliche in unserem Leben zu einem Ausdruck bringen können. Jiddu Krishnamurti verfolgt den Ansatz, die passenden äußeren Rahmenbedingungen zu schaffen, also etwa ein wertschätzendes, wohlwollendes, aufbauendes Miteinander. Und haben wir die passenden Bedingungen, dann kommt – wie von Zauberhand – das Wesentliche zu einem Ausdruck. Nun ja, ich weiß nicht wie es Ihnen ergeht, ich jedenfalls warte nicht auf die Zauberhand, sondern ergründe stattdessen das Wesentliche in einer Situation selbst, um es dann zu einem guten Ausdruck zu bringen.

Über das Gänseblümchen:

Roger Kalbermatten: Wesen und Signatur der Heilpflanzen, AT Verlag, Aarau, 2002

Wolf Dieter Storl: Heilkräuter und Zauberpflanzen, AT Verlag, Aarau, 2020

Alexandra Szeli: Das Gänseblümchen – klein aber oho!

Anke Herrmann: Gänseblümchen (Bellis perennis) – NHV Theophrastus

Olaf Rippe: Gänseblümchen – Die Lichtkünderin – Natura Naturans