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Den Ballast loslassen

Im Laufe unseres Lebens entwickeln wir Menschen unsere Gewohnheiten und unsere Ansichten. Dabei ist vieles sehr hilfreich, anderes jedoch eher störend und wird oftmals geradezu als Ballast empfunden. Doch wie können wir uns von diesem Ballast befreien? In ihrem Dialog entwickeln Xanthippe und Sokrates einen Ansatz, wie wir zu einem freien, eigenständigen Leben gelangen können.

Xanthippe: Sokrates, jetzt wird uns von Kindesalter gesagt, was wir zu tun und zu lassen haben, wie wir uns zu verhalten haben, worauf wir in unserem Leben zu achten haben und was wichtig ist. Doch ich habe den leisen Verdacht, viele dieser Ratschläge, die uns da vermittelt werden, sind schlicht überflüssig.

Sokrates: Ja wir nehmen diese ganzen Informationen in uns auf und schleppen sie mit uns rum, in dem Glauben, dass sie uns eine gute Orientierung in den täglichen Situationen bieten mögen.

Xanthippe: Dabei sind die ganzen Ratschläge ja durchaus gut gemeint und viele davon lohnen sich, berücksichtigt zu werden. Doch mindestens genauso viele dieser Hinweise bräuchten wir eigentlich gar nicht. Sie sind überflüssig, hängen gewissermaßen wie Ballast an uns und machen uns das Leben schwer.

Sokrates: So stellt sich die Frage: Wie können wir uns von dem Ballast befreien? Wie können wir unterscheiden, welche Ratschläge für uns wichtig sind, welche wir beherzigen sollten und welche schlicht überflüssig sind?

Xanthippe: Die Situation erinnert mich an alte eine persische Geschichte:

Der Wanderer

Ein Wanderer zog mühsam auf einer scheinbar endlos langen Straße entlang. Er war über und über mit Lasten behangen. Ächzend und stöhnend bewegte er sich Schritt für Schritt vorwärts, beklagte sein hartes Schicksal und die Müdigkeit, die ihn quälte. Auf seinem Weg begegnete ihm in der glühenden Mittagshitze ein Bauer. Der fragte ihn: „Oh müder Wanderer, warum belastest du dich mit diesen Felsbrocken!“ „Zu dumm“, antwortete der Wanderer, „aber ich habe sie bisher noch gar nicht bemerkt.“ Darauf warf er die Brocken weit weg und fühlte sich viel leichter.

Wiederrum kam ihm nach einer langen Wegstrecke ein Bauer entgegen, der sich erkundigte: „Sag müder Wanderer, warum plagst du dich mit einem halbfaulen Kürbis auf dem Kopf und schleppst an Ketten so schwere Eisengewichte hinter dir her?“ Es antwortete der Wanderer: „Ich bin so froh, dass du mich darauf aufmerksam machst; ich habe nicht gewusst was ich mir damit antue.“ Er schüttelte die Ketten ab und zerschmetterte den Kürbis im Straßengraben. Wieder fühlte er sich leichter.

Doch je weiter er ging, umso mehr begann er wieder zu leiden. Ein Bauer, der vom Feld kam, betrachtete den Wanderer erstaunt: „Oh guter Mann, du trägst Sand in Deinem Rucksack. Doch was du in weiter Ferne siehst ist mehr Sand, als du jemals tragen könntest. Und wie groß ist dein Wasserschlauch – als wolltest du die Wüste Kawir durchwandern. Dabei fließt neben dir ein klarer Fluss, der deinen Weg noch weit begleiten wird!“ „Dank dir, Bauer, jetzt merke ich, was ich mit mir herumgeschleppt habe.“ Mit diesen Worten riss der Wanderer den Wasserschlauch auf, dessen brackiges Wasser auf dem Weg versickerte, und füllt mit dem Sand aus dem Rucksack ein Schlagloch.

Er blickte an sich herab, sah den schweren Mühlstein an seinem Hals und merkte plötzlich, dass der Stein es war, der ihn noch so gebückt gehen ließ. Er band ihn los und warf ihn, soweit er konnte, in den Fluss hinab. Frei von den Lasten wanderte er durch die Abendkühle, eine Herberge zu finden.

Quelle: Nossrat Peseschkian: Wenn du willst, was du noch nie gehabt hast, dann tu, was du noch nie getan hast. S. 14. Herder Verlag 2002

Sokrates: Ja das ist eine schöne Geschichte. Doch so einfach lässt sich die Geschichte auf das Loslassen unseres inneren Ballasts gar nicht übertragen.

Xanthippe: Wieso nicht? Ist es nicht so, dass wir auch auf unseren inneren Ballast nur hingewiesen werden müssen und schon können wir uns von ihm befreien und fühlen uns gleich besser?

Sokrates: Nun, der springende Punkt ist: allzu oft identifizieren wir uns mit unserem inneren Ballast. Dann tragen wir diesen Ballast, sind uns durchaus der Mühe und der Plage bewusst, die er uns bereitet, doch wir meinen das muss so sein, da es die Situation oder das Umfeld erfordert. Wir sehen es dann gewissermaßen als unsere Aufgabe an, den Ballast zu tragen.

Xanthippe: Und ernten dafür anerkennende Blicke von unseren Kollegen, unserem Chef, unseren Freunden oder wem auch immer.

Sokrates: Genau! Es ist die Ausrichtung nach dem Außen, die uns daran hindert, den Ballast loszulassen.

Xanthippe: Und nicht nur das. Wir sind dann auch gar nicht bereit, die Situation unvoreingenommen zu betrachten und uns die Frage zu stellen: wie können wir die Aufgabe mit leichter Hand meistern, so dass sie gut gelingt und für uns eine Freude ist.

Sokrates: Stattdessen identifizieren wir uns mit dem Ballast, wollen ihn gar nicht loslassen und sind oftmals bereit, einen noch schwereren Rucksack zu tragen.

Xanthippe: Doch Sokrates sag, wie können wir dann unseren inneren Ballast überwinden?

Sokrates: Nun wir können uns nur von Ballast befreien, wenn wir stattdessen etwas Attraktiveres bekommen.

Xanthippe: Aber wenn wir den Ballast wegwerfen, dann ist das doch ein befreiendes Gefühl. Das ist doch etwas Attraktives.

Sokrates: Nicht unbedingt. Denn machen wir uns nichts vor, der Ballast, der gibt uns einen Halt, der gibt uns eine Aufgabe. Und werfen wir den Ballast weg, dann ist das zwar erst einmal befreiend, doch damit ist auch der Halt, damit ist auch die Aufgabe weg.

Xantippe: Du meinst wir müssen uns neu orientieren, brauchen eine neue Aufgabe?

Sokrates: Genau. Ist der alte Ballast weg, so ist das befreiend. Doch wir brauchen dann wieder etwas, das diesen gewonnenen Freiraum ausfüllt. Sonst fühlen wir uns in der gewonnenen Freiheit verloren und sie macht uns Angst.

Xanthippe: Ah und es diese Angst vor der Freiheit, die Angst vor dem Unbekannten, vor dem Neuen, die uns oftmals daran hindert, den Ballast abzuwerfen?

Sokrates: Ja wir sind uns dieser Angst zwar meistens gar nicht bewusst, doch sie ist es, die uns unbewusst ausbremst, so dass wir in den bestehenden Situationen und Gewohnheiten verhaftet bleiben.

Xanthippe: Aber sag, wie kommen wir aus dieser Nummer raus? Wie können wir unseren Ballast hinter uns lassen?

Sokrates: Auf die Frage mag es verschiedene Antworten geben. Ein möglicher Weg besteht darin, seinen Wesenskern aufzuspüren und diesen mehr und mehr zum führenden Maßstab in seinem Leben zu erheben.

Xanthippe: Du meinst: wenn ich weiß, was meine zentrale, prägende Persönlichkeitseigenschaft ist und ich diese Eigenschaft in den täglichen Situationen immer souveräner zum Ausdruck bringe, dann kann ich den Ballast hinter mir lassen?

Sokrates: Ja. Dafür brauchst Du einerseits eine gute Kenntnis Deines Wesens und eine konkrete Vorstellung, wie Du Dein Wesen zum Ausdruck bringen kannst.

Xanthippe: Und wie komme ich dahin?

Sokrates: Die Guten Gespräche weisen den Weg. Mit ihnen kannst Du in den ganz alltäglichen Aufgaben anfangen, tragfähige Lösungen im Miteinander zu entwickeln. Und dabei prüfst Du, welche deiner erteilten Ratschläge für die Situation angemessen sind und welche einfach nur Ballast sind und zu verwerfen sind. Und in dem Gespräch werden alle Persönlichkeitseigenschaften aktiviert und gestärkt. So bekommst Du mehr und mehr eine Vorstellung davon, was Dein Wesenskern ist und wie Du ihn zu einem Ausdruck bringen kannst.

Xanthippe: Aber bei dem Vorgehen lasse ich doch auch immer das Alte los und muss für das Neue eine Lösung finden. Wie kann ich da die Angst überwinden?

Sokrates: Indem Du mit kleinen, überschaubaren Aufgaben anfängst – was gibt es heute zu essen?, wo fahren wir im Urlaub hin? und so weiter. Und hast Du die ersten kleinen Aufgaben gemeistert, dann wächst die Zuversicht in die eigenen gestalterischen Möglichkeiten, dann entsteht ein Vertrauen in das eigene Ich.

Xanthippe: Und es ist dieses Vertrauen, das mich dann die nächst größeren Aufgaben angehen lässt?

Sokrates: Genau. So werden wir einerseits zu einer immer eigenständigeren Persönlichkeiten, und andererseits können wir die Aufgaben immer souveräner lösen und immer anspruchsvollere Aufgaben angehen.

Xanthippe: Und dabei lassen wir mehr und mehr den Ballast hinter uns?

Sokrates: Indem wir uns immer mehr danach ausrichten, was wir wirklich wollen, tritt der innere Ballast mehr und mehr in den Hintergrund.

Xanthippe: Wir werfen den Ballast also gar nicht bewusst weg, sondern stecken unsere Energie in das, was für uns wichtig ist, was wir wirklich wollen. Und in Anbetracht dieses Ziels wird der Ballast immer unbedeutender. Er ist zwar irgendwie noch da, doch wir beschäftigen uns nicht mehr mit ihm und damit belastet er uns nicht mehr. Wir trocknen den Ballast gewissermaßen aus.

Sokrates: So werden wir Schritt für Schritt zu immer freieren Menschen, die das was sie wollen mit ihren eigenen Möglichkeiten immer besser verwirklichen.

Xanthippe: Und dafür braucht es das Miteinander, das Gespräch.

Sokrates: Denn alleine sind wir doch allzu oft die Opfer unseres inneren Ballasts. Dabei ist der Ballast für uns häufig so selbstverständlich, dass wir ihn gar nicht bewusst wahrnehmen. Wie in der Geschichte mit dem Wanderer braucht es dann den Stubbs von anderen, die uns auf unseren inneren Ballast erst einmal aufmerksam machen, um ihn dann überwinden zu können. Und außerdem werden die erzielten Lösungen attraktiver und stabiler, wenn Menschen mit verschiedenen Perspektiven sich in Gesprächen austauschen und im konstruktiven Zusammenwirken eine Lösung schaffen.

Xanthippe: Also sollten alle Menschen lernen, gute Gespräche zu führen!

Sokrates: Ja das wäre schön!