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Der mittlere Weg

Tagein, tagaus der gleiche Krams: Aufstehen, Zähne putzen, Wäsche waschen, Kaffee kochen, Schuhe schnüren, Geschirr abwaschen, Pflanzen gießen, Brot einkaufen, Essen zubereiten, Rechnungen bezahlen, Staubsaugen, Toilette putzen… und so weiter und so fort. Und wir denken: Ach ist das lästig! Das eigentliche Leben fängt doch erst da an, wo wir diesen Krams hinter uns lassen. Und so suchen wir nach Wegen, unserem Alltag zu entkommen, ihm möglichst schnell zu entfliehen. Wir wollen aus dem Hamsterrad ausbrechen und halten dafür Ausschau nach dem Herausragenden, nach dem Extremen, den Superlativen, damit sie unseren tristen Alltag aufwerten und überstrahlen mögen.

Dafür genügt uns nicht mehr der kleine Spaziergang am Abend. Das ist banal, langweilig. Wir streben nach Größerem. Bewundern vielleicht die Kletterer an der Watzmann Ostwand, auf dem Jubiläumsgrad an der Zugspitze oder am Mount Everest. Ja das wollen wir auch! Dafür ist zu trainieren. Wir müssen sportlich fit werden. Fangen an zu joggen. Machen Klimmzüge. Liegestütze. Üben in der Kletterhalle. Beschaffen uns das nötige Outfit. Fühlen uns so verbunden mit den kühnen Alpinisten, den Free Climbern im Elbsandsteingebirge oder sonst wo. Wir gehören dazu. Ja das ist wahres Leben!

Und der Alltag? Ach der ist nicht so wichtig. Den erledigen wir so nebenbei und richten uns aus nach unserem großen Ziel. Und ist das Ziel erreicht, ja was ist das für ein glücklicher Moment… und Hurra!, sofort ist das nächste Ziel in Sicht: noch höher, noch schneller, noch weiter.

Das dumme bei dem Ausrichten nach den Extremen ist, dass diese Extreme die Tendenz haben, unsere gesamte Energie einzufordern. Wir richten uns nach den Extremen aus und uns fehlt dabei oftmals die Gelassenheit und die Übersicht, nach rechts und links zu schauen. Durch die Fokussierung auf das Extrem können wir zwar das Extrem erreichen, doch das hat einen hohen Preis. Um das Ziel zu erreichen, vernachlässigen wir vielleicht unsere sozialen Kontakte, unsere sonstigen Interessen und haben vielleicht auch gar kein Gespür mehr für uns selbst. Wir fragen uns gar nicht mehr: taugt uns das? Fühle ich mich wohl dabei? Ich achte gar nicht mehr auf mein eigenes Ich, sondern das äußere Ziel richtet mich aus und prägt mein gesamtes Denken, mein Fühlen und Handeln. Und haben wir das Ziel erreicht, dann lassen wir es damit nicht bewenden. Sogleich brauchen wir ein neues Ziel. Noch höher, noch schneller, noch weiter. Es ist nie genug. Wir sind nie zufrieden. Wie ein Pferd, dass einer vorgehaltenen Möhre hinterherläuft, jagen wir unseren Zielen hinterher und nehmen dabei bereitwillig in Kauf, dass wir als Menschen immer leerer werden, wir unser tägliches Leben gar nicht mehr als attraktiv ansehen, gar nicht mehr schauen, wie wir unseren Alltag beleben können. Stattdessen vereinnahmt uns das Ziel mehr und mehr, richtet uns mehr und mehr aus – in der Hoffnung, dass das Erreichen dieses Zieles uns die ersehnte innere Zufriedenheit gibt. Doch dabei verachten wir in einem gewissen Sinne den Alltag, das Gewöhnliche. Wir stufen es ein als langweilig, als etwas, dass es zu überwinden gilt. Der Alltag ist das Hamsterrad, aus dem wir ausbrechen möchten.

Dabei ist die treibende Kraft unsere Sehnsucht nach Glück und Zufriedenheit. Und indem wir uns auf ein Extrem fokussieren, hoffen wir, dieses Glück, diese Zufriedenheit mit dem Erreichen des Ziels zu erlangen. Doch das ist ein Trugschluss. Sicher, wenn wir das Ziel erreicht haben, dann fühlen wir uns großartig, dann fühlt sich das Leben leicht und schön an. Doch das währt nur kurze Zeit. Denn ganz schnell drängt schon das nächste Ziel in den Vordergrund. Und wieder machen und tun wir, nehmen wir Entbehrungen und Opfer auf uns, um jetzt das neue Ziel zu verwirklichen. Es endet nie. Immer streben wir nach dem Glück. Doch was wir erreichen, sind allenfalls glückliche Momente. Und von denen brauchen wir immer mehr. Wir werden in gewisser Hinsicht von den Zielen, von dem Extremen, von den Superlativen abhängig – Glücks-Junkies. Und auf der anderen Seite verödet unser Alltag immer mehr, wir schenken ihm immer weniger Aufmerksamkeit, empfinden ihn als lästig und störend, da er unserem Ziel im Weg steht. Wir sind innerlich zerrissen und werden immer unzufriedener.

Wir sind gefangen in Polaritäten: das eine, das wir wollen, das für uns attraktiv und erstrebenswert erscheint und das andere, das wir nicht wollen, das wir als lästig und störend empfinden. Gut und Böse, Schwarz und Weiß, richtig und falsch und so weiter und so fort. Diese Polaritäten beherrschen unser Leben. Sie belasten uns selbst und unser Miteinander. Sie sind die Ursache für unsere innere Unzufriedenheit, für Auseinandersetzungen, Streitereien und Kriege. Dabei ist es vertrackt. Je mehr wir uns auf einen Pol fokussieren, umso mehr stärken wir damit den Gegenpol. Je mehr wir uns auf unser attraktives Ziel fokussieren, umso mehr Widerstände stellen sich uns in den Weg, umso mehr müssen wir uns mit dem ganzen lästigen Krams befassen, dem öden Alltag, den wir doch einfach nur hinter uns lassen möchten. Mitunter wird der Krams übermächtig. Es ist zum Verzweifeln. Ich möchte doch das „Gute“, das „Schöne“ das „Richtige“, nur stellt sich mir dabei das „Schlechte“, das „Böse“, das „Falsche“ immer mehr in den Weg. Ja ich verstärke es geradezu durch meine Ausrichtung auf das „Gute“. Doch ich verzage nicht. Ich schwinge mich auf zum Kämpfer für das „Gute“! Dann schaue ich meine Umgebung nur noch mit der Frage an, ob etwas meinem Ziel nützt oder nicht. Dann nehme ich die Mitmenschen gar nicht mehr an sich wahr, in ihren individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten, sondern nur noch unter dem Aspekt, wie sie zu meinem Ziel stehen – ob sie „Freunde“ sind, die mich bei meinem Ziel unterstützen und fördern, oder ob sie „Feinde“ sind, die Ansichten vertreten, die nicht zu meinem Ziel passen. Und je mehr mich das Ziel vereinnahmt, umso kleiner wird der Kreis der „Freunde“. Schließlich führe ich einen Kampf gegen den Rest der Welt. Dann stehe ich ganz allein da.

Doch wie kommen wir aus dieser Nummer raus? Wie können wir die Polaritäten überwinden? Wie können wir für unsere Situation eine gute, eine tragfähige Lösung finden? Wie können wir für uns eine Zufriedenheit erlangen? Es braucht einen neuen Ansatz, eine andere Denkweise!

Also gehen wir jetzt mal nicht von den Polaritäten aus, von dem was wir für richtig oder falsch halten. Stattdessen betrachten wir die aktuelle Situation. Was ist überhaupt los in der Situation? Was macht die Situation aus? Und dabei stellen wir unsere eigenen Vorstellungen über die Situation hinten an. Die sind nicht wichtig. Ganz im Gegenteil, sie stehen dem Erfassen der Situation regelrecht im Wege. Und wenn wir uns ein konkretes, ein realistisches Bild der Situation verschafft haben, dann fragen wir weiter: wo ist hier etwas zu verändern? Wo drückt der Schuh? Und haben wir diesen Bedarf klar auf den Punkt gebracht, dann können wir herangehen und das Dilemma lösen. Dafür finden und prüfen wir Ideen, entwickeln sie weiter zu einer tragfähigen Lösung, die dann realisiert wird.

Veränderungsprozess, der einen Mangel in der Ausgangssituation aufgreift und zu einer Lösung bringt, die eine spezifische neue Ordnung schafft.

Der wesentliche Punkt ist, dass wir bei diesem Prozess von der tatsächlichen Situation ausgehen, für diese einen Bedarf aufspüren und zu einer Lösung bringen. Dabei treten die verschiedenen Meinungen, Ansichten, Fähigkeiten und Polaritäten immer noch auf. Sie sind auch erwünscht, denn gewissermaßen bilden sie den Nährboden, aus dem wir im Miteinander eine tragfähige Lösung schöpfen. Allerdings haben unsere Ansichten dafür ihren konfliktträchtigen Charakter zu verlieren. Die Positionen werden von den Beteiligten nicht mit der Absicht eingebracht, sie gegen die Ansichten der anderen durchzusetzen. Stattdessen fragen wir: wie kann meine Ansicht zu einer guten Lösung für die Situation beitragen? Das Entwickeln einer guten Lösung für die gemeinsame Situation ist das zentrale, das verbindende Anliegen. Dafür bringt sich jeder nach seinen Möglichkeiten, mit seinen Ansichten ein. Gemeinsam werden die Meinungen geprüft, angepasst und ausgerichtet, so dass sie für die Situation passen. Dabei fördert der konstruktive Austausch immer neue Aspekte und Ideen zu Tage. Das Vorgehen erinnert an ein Puzzle. Für die verschiedenen Ansichten und Ideen werden im Miteinander einzelne Puzzleteile geformt, die sich zu einem Gesamtbild verbinden. Die Vielfalt der eingebrachten Positionen sorgt dafür, dass das resultierende Bild attraktiv, bunt und stabil wird. Dabei kann es durchaus passieren, dass einzelne Positionen sich als nicht tragfähig erweisen und verworfen werden. Dann hat sich keiner einen Zacken aus der Krone zu brechen. Den Beteiligten ist das Entwickeln einer passenden Lösung wichtiger, als das Durchsetzen ihrer eigenen Position. In diesem Sinne ziehen alle an einem Strang. Als Resultat entsteht im konstruktiven Miteinander eine Lösung, ein Wert, der die Situation neu ausrichtet und den Mangel in der Ausgangssituation behebt.

Drei Personen (kleine Kreise) mit unterschiedlichen Positionen und Ansichten (verschiedene Farben in den kleinen Kreisen) schaffen im konstruktiven Austausch (sich durchmischende große Kreise um die drei kleinen Kreise) einen spezifischen Wert (Diamant), der für die gesamte Situation (großer oranger Kreis) eine neue Ordnung darstellt.

Das erzielte Ergebnis wird von allen Beteiligten begrüßt und als Bereicherung empfunden. So werden wir zu Gestaltern unseres Lebens. Wir richten die täglichen Situationen im aktiven Miteinander durch unsere eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten neu aus, so dass es für alle Beteiligte angemessen ist, dass es gut ist. Wir werden zu Schöpfern unseres Alltags. Wir machen uns unser Leben selbst attraktiv, freudig und farbig. Dadurch werden wir zufrieden.

Himmel und Hölle

Einst kam ein Mann zum Propheten Elias. Ihn bewegte die Frage nach Himmel und Hölle, denn er wollte seinem Leben einen Sinn geben.

Da nahm ihn der Prophet bei der Hand und führte ihn durch dunkle Gassen in einen großen Saal, wo sich viele ausgemergelte Gestalten um die Feuerstelle drängten. Dort brodelte in einem großen Kessel eine köstlich duftende Suppe. Jeder der Leute besaß einen gusseisernen Löffel, der so lang war, wie er selbst. Der Löffel war auf Grund seiner Größe zu schwer, um allein die Suppe damit schöpfen zu können und zu lang, um damit die Nahrung zum Mund führen zu können. So waren die Menschen halb wahnsinnig vor Hunger und schlugen aufeinander ein vor Wut.

Da fasste Elias seinen Begleiter am Arm und sagte: „Siehst Du, das ist die Hölle.“

Sie verließen den Saal und traten bald in einen anderen. Auch hier viele Menschen. Auch hier wieder ein Kessel Suppe. Auch hier die riesigen Löffel. Doch die Menschen waren wohlgenährt, und man hörte in dem Saal nur das Summen angeregter Unterhaltung. Männer und Frauen hatten sich zusammengetan. Einige tauchten gemeinsam die schweren Löffel ein und fütterten die Gegenübersitzenden. Umgekehrt geschah es ebenso. Auf diese Weise wurden alle satt.

Und der Prophet Elias sagte zu seinem Begleiter: „Siehst Du, das ist der Himmel.“

nach Georg Reichel: Der Indianer & Die Grille, 14

Hier finden Sie das methodische Rüstzeug für den mittleren Weg.