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Die Situation erfassen

Xanthippe: Sag Sokrates, wenn wir eine Situation erfassen wollen, wie entwickeln wir dabei ein möglichst umfassendes, vollständiges und zugleich konkretes und genaues Bild?

Sokrates: Dafür haben wir die Situation mit einem unvoreingenommenen Interesse zu betrachten und immer wieder andere Perspektiven einzunehmen, aus denen wir die Situation wahrnehmen und die sich zu einem Gesamtbild ergänzen.

Xanthippe: Puh, das hört sich kompliziert an. Doch fällt mir dazu eine Geschichte ein:

In dem Rat der Stadt war ein Streit ausgebrochen, darüber, wie der Autoverkehr in der Innenstadt beruhigt, der öffentliche Nahverkehr ausgebaut und das Radfahren attraktiver gemacht werden könnte. Der Streit trennte die Parteien und auch innerhalb der Parteien gab es schon lange keine Einigkeit mehr. Jedes Ratsmitglied vertrat seine Position, die es vehement versuchte, gegen die Meinung der anderen durchzusetzen. Es gab endlose Debatten. Der Streit eskalierte und machte den ganzen Stadtrat handlungsunfähig. Der Bürgermeister war ratlos. In seiner Not fragte er den Mullah, was zu tun sei. Der Mullah sagte: „Lass mich nur machen.“

Ein paar Wochen später gastierte ein Zirkus in der Stadt. Der Mullah führte bei Nacht einen Elefanten in einen dunklen Raum und rief die Ratsmitglieder herbei. Da es dunkel war, konnten die Ratsmitglieder den Elefanten nicht sehen, und so versuchten sie, seine Gestalt durch Betasten zu erfassen. Da der Elefant groß war, konnte jeder der Politiker nur einen Teil des Tieres greifen und nach seinem Tastbefund beschreiben.

Der erste Politiker, der ein Bein des Elefanten erwischt hatte, erklärte: „Da steht eine große Säule im Zimmer.“ Für einen zweiten, der einen Stoßzahn berührt hatte, war klar: „Nein, da hängt ein harter, spitzer Gegenstand!“ Der dritte hatte das Ohr des Elefanten ertastet und sagte: „Nein, in dem Zimmer wird ein großer Fächer geschwungen.“ Mit gleicher Überzeugung meinte der vierte, der über den Rücken des Elefanten strich: „Ihr irrt alle, in dem Zimmer steht eine große, flache Liege.“

Doch bevor wieder ein Streit ausbrechen konnte, knipste der Mullah das Licht an, und die Ratsmitglieder erkannten betroffen, dass sie alle recht hatten, dass ein jeder allerdings nur eine eingeschränkte Sicht auf den Elefanten hatte und dass sich die einzelnen Vorstellungen ergänzen, um ein Gesamtbild des Elefanten zu erhalten. Seitdem arbeiten die Ratsmitglieder konstruktiv zusammen. Sie unterstützen sich, tauschen ihre unterschiedlichen Vorstellungen und Meinungen aus, um zum Wohle der Stadt gemeinsam gute Lösungen zu finden.

Sokrates: Schön und gut. Aber wie kriegen wir es jetzt in einem Gespräch hin, eine gemeinsame Sicht der Dinge zu entwickeln?

Xanthippe: Die wesentliche Voraussetzung ist, dass uns die Situation interessiert, dass sie uns anspricht, irgendwie für uns relevant ist. Denn das Interesse fördert die Bereitschaft zu Tage, uns überhaupt auf die Sache einzulassen.

Sokrates: Als Ziel sollte die Situation aus Sicht jedes Einzelnen sowohl inhaltlich als auch emotional greifbar werden, so dass jeder der Beteiligten die Lage der anderen nachempfinden kann.

Xanthippe: Ja, so entstehen ein tieferes Verständnis und Empfinden für die Situation aller Beteiligter. Im günstigen Fall entsteht sogar eine Ahnung dessen, was nicht mitgeteilt wird.

Sokrates: Nur, wie kommen wir dahin?

Xanthippe: Das wesentliche Mittel sind Fragen. Offene Fragen, ‚W‘-Fragen – Was? / Wer? / Wie? / Wo? / Wann? – die dem Gegenüber immer wieder die Möglichkeit bieten, die Situation noch umfassender zu beschreiben.

Sokrates: Dabei richten sich die Fragen speziell auf Seiten der Situation, die noch nicht benannt wurden, oder die noch nicht richtig klar erscheinen. Durch die Antworten fügen sich immer neue Aspekte in das Bild und es wird vollständiger.

Xanthippe: Ebenso wichtig sind auch Fragen, um die Situation aus verschiedenen Blickwinkeln auszuleuchten. Mit ausreichender Distanz und dem nötigen Überblick werden verschiedene Beiträge von Personen mit unterschiedlichem Hintergrund oder voneinander abweichenden Voraussetzungen zusammengetragen.

Sokrates: Ja mit den Fragen nehmen wir eine höhere Perspektive ein, mit der wir auf das Gesamtbild schauen und es immer wieder in einem anderen Licht betrachten.

Blühende Kirschbäume mit Löwenzahn

Xanthippe: Es erinnert an das staunende Wahrnehmen einer blühenden Obstwiese. Die Vielfalt der Blüten und Farben sind ein wahres Feuerwerk für die Sinne. Sie regt zum immer genaueren Schauen, Riechen und Hören an, wobei Unterschiede eher als ein Geschenk, einen Gewinn zu verstehen sind, als eine Komplikation.

Sokrates: Oder wie es Christian Morgenstern sagte: Man sieht etwas hundert, tausend Mal, ehe man es zum allerersten Mal wirklich sieht.

Xanthippe: Doch besteht die Herausforderung, auch bei schwierigen, konfrontierenden oder provozierenden Beiträgen in der Lage zu sein, offen und empathisch zu bleiben.

Sokrates: Ja, dafür brauchen wir die Bereitschaft, uns den hervorgerufenen, unangenehmen Empfindungen und Gedanken zu stellen und die auftretenden Widerstände zu überwinden.

Xanthippe: Dabei helfen passende Selbstbefragungen: Wie wirkt die Situation auf mich? Was empfinde ich? Was denke ich? Als Resultat entsteht eine genaue Einschätzung und Selbstwahrnehmung in der Situation.

Sokrates: Doch Vorsicht! Bei Empathie ist vor allem eine gute Empfindung zu entwickeln, wie die Situation auf das Gegenüber wirkt.

Xanthippe: Hm ja, also wie das Sprichwort es sagt: mit den Augen des Anderen sehen, mit den Ohren des Anderen hören, mit dem Herzen des Anderen fühlen.

Sokrates: Genau! Dafür haben wir dem Anderen einen Raum zu geben, damit er sich öffnen kann und wir ihn dabei einfühlsam wahrnehmen, ohne uns ein vorschnelles Urteil zu erlauben.

Xanthippe: Ich schlüpfe wie ein Schauspieler in die Rolle des Anderen. Ich fühle mich in die Rolle hinein, erspüre, wie der Andere die Situation wahrnimmt, sie empfindet und erkenne darüber hinaus mehr und mehr seine Beweggründe, seine Gedanken und Ziele.

Sokrates: Indem ich diese Wahrnehmung mit meiner eigenen Vorstellung der Situation abgleiche, kann ich mich fragen: Wie kann ich dem Anderen helfen, damit er sein Ziel erreicht?

Xanthippe: Ja, durch das ehrliche Einfühlen in die Situation des Gegenübers, kann ich ihn aus einer freien Haltung heraus unterstützen, mit meinen ganz individuellen Möglichkeiten.

Sokrates: Dabei ist Mitgefühl klar von Mitleid zu unterscheiden!

Xanthippe: Bei ehrlichem Mitgefühl ziehe ich mir sozusagen die Stiefel des Anderen an und wandere mit ihm auf dem Weg. Beim Mitleid bedauere ich ihn auf seinem Weg.

Xanthippe: Doch sind die eigenen Grenzen zu wahren.

Sokrates: Das ist ganz wichtig. Jeder ist selbst dafür verantwortlich, auf das eigene Ich zu achten, ohne sich von den Anderen völlig vereinnahmen zu lassen oder sich aufzugeben.

Sokrates: Auf dem Weg werden auch Meinungsverschiedenheiten, Interessenskonflikte und Probleme aufgedeckt und ebenso die verschiedenen Bewertungen, Urteile, Meinungen und Interpretationen über die Situation.

Xanthippe: Doch die verschiedenen Ansichten und Meinungen führen leicht zu unfruchtbaren Diskussionen, ohne das zu entwickelnde Bild zu beleben oder weiter zu konkretisieren.

Sokrates: Deshalb sollten Diskussionen über das „Warum“, über Ursachen oder Schuldzuweisungen möglichst unterbleiben. Aber Unklarheiten und Missverständnisse sind aufzudecken!

Xanthippe: Auf jedem Fall! Missverständnisse und Unklarheiten sind aus dem Weg zu räumen, damit ein gemeinsames, möglichst realistisches Bild der Situation entsteht.

Sokrates: So, wie es wirklich ist.

Xanthippe: Nur dann können wir die Situation akzeptieren und ändern.

Sokrates: Dabei bedeutet das Akzeptieren der Situation keinesfalls, sie in jedem Fall gutzuheißen oder durch die rosarote Brille zu betrachten, sondern vielmehr mit tiefer Überzeugung sagen zu können: Es ist so, wie es ist.

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