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Man sieht nur mit dem Herzen gut

Man sieht nur mit dem Herzen gut,

das Wesentliche ist für unsere Augen unsichtbar.

Antoine de Saint Exupéry

Ja das Wesentliche ist unsichtbar und so stellt sich die Frage: wie können wir es erkennen? Wie können wir dem Wesentlichen auf die Spur kommen? Und was soll das heißen: Man sieht nur mit dem Herzen gut? Wie soll das funktionieren? Wie können wir mit dem Herzen das Wesentliche sehen? Auf diese Fragen gibt der Artikel eine Antwort.

Das Wesentliche ist unsichtbar

Das Wesentliche ist der Kern einer Sache, einer Situation, einer Landschaft oder eines Lebewesens. Es prägt die Situation. Doch das Wesentliche ist nicht offensichtlich. Es ist wie bei einem Marionettenspieler, der die Fäden seiner Puppen in der Hand hält, ihr Agieren, ihr Handeln und Tun bestimmt, wobei er selbst jedoch im Hintergrund, im Verborgenen bleibt. Das Wesentliche ist nicht die Form, nicht das Äußere. Sondern es ist die Art, wie in einer Situation ein Resultat zu Stande kommt, wie der Marionettenspieler seine Marionetten führt, wie er ihnen Leben verleiht.

Betrachten wir ein Beispiel. Fragen wir uns: Was ist das Wesentliche einer Kerze? Jetzt besteht eine brennende Kerze aus Wachs, einem Docht und aus dem Feuer. Das sind ihre Bestandteile. Und durch das passende Zusammenwirken dieser drei Bestandteile erstrahlt das Licht. Doch das Wesentliche einer Kerze sind jetzt nicht ihre Bestandteile. Es ist auch nicht das Licht, das die Kerze ausstrahlt. Das Wesentliche der Kerze ist die innere Gesetzmäßigkeit, die in dem Zusammenspiel von Wachs, Docht und Feuer das Licht erstrahlen lässt. Es ist das Wie, das aus den Bestandteilen ein Resultat (also hier das Licht) erschafft.

Man sieht nur mit dem Herzen gut

Doch dieses Wie können wir nicht direkt mit unseren Augen wahrnehmen. Aber wie können wir ihm denn dann auf die Schliche kommen? Jetzt gibt uns der kleine Prinz den Ratschlag: man solle mit dem Herzen sehen. Doch wie soll das funktionieren? Wie können wir mit unserem Herzen sehen?

Gehen wir Schritt für Schritt vor. Bevor wir die Frage nach dem Wesentlichen stellen, haben wir erst einmal die Situation zu betrachten, für die wir das Wesentliche herausfinden wollen. Dafür haben wir interessiert und unvoreingenommen zu schauen, aus immer neuen Blickrichtungen. So entsteht ein immer umfassenderes, klareres und konkreteres Bild von der Situation.

Doch das ist das äußere Bild. Um jetzt dem Wesen auf die Schliche zu kommen, haben wir die Frage zu stellen: wie kommt das, was wir da sehen zu Stande? Was sind die dahinter liegenden Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten? Dafür nehmen wir die Situation, so wie wir sie wahrnehmen, nicht mehr einfach als gegeben hin, sondern wir hinterfragen sie, um den zugrunde liegenden Mechanismen auf die Spur zu kommen.

Unsere Meinungen versperren den Weg

Doch wir haben acht zu geben, dass wir nicht Opfer unserer eigenen Meinungen und Vorstellungen werden. Antoine de Saint Exupéry brachte es auf den Punkt:

Die Intelligenz verdirbt den Sinn für das Wesentliche

Antoine de Saint Exupéry

Denn mit unserer Intelligenz machen wir uns unsere Gedanken über die Situation – wie wir meinen, dass die Situation sei. Der Punkt ist – diese Gedanken brauchen mit der Realität nicht zusammenzupassen. Unser Bild, das wir uns von der Situation machen, braucht mit der Wirklichkeit nicht übereinzustimmen. Um ein möglichst realistisches Bild zu entwickeln, haben wir unsere eigenen Meinungen und Ansichten hintanzustellen. Die Krux ist allerdings: allzu leicht identifizieren wir uns mit unseren selbstgemachten Vorstellungen, mit unserem Intellekt. Und dann versperren uns die selbstgemachten Ansichten und Meinungen die Sicht für die Realität, für das Wesentliche.

Wir haben unseren Intellekt „auszuhungern“, ihn hintan zu stellen, um zu einer realistischen Sicht der Dinge zu gelangen. Und dafür haben wir unser selbstgemachtes Bild von der Situation immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. Wir haben immer wieder zu schauen, wo unser Bild von der Realität mit den tatsächlichen Gegebenheiten noch nicht zusammenpasst, wo es noch anzupassen ist.

Die Situation hinterfragen

Dafür hinterfragen wir die Situation: Passt die Meinung? Passt die Ansicht? Wo ist noch etwas unklar? Wo ist noch etwas zu konkretisieren? Haben wir unsere Irrtümer und unklaren Punkte aufgedeckt, dann kommen wir wieder zu einem etwas realistischeren, konkreteren und umfassenderen Bild der Situation.

So geht es hin und her: wir betrachten die Situation und verschaffen uns ein Bild, das wir dann im nächsten Schritt prüfen und hinterfragen. Worauf wir die Situation in einem neuen, erweiterten Licht betrachten, um sie dann wieder zu prüfen und zu hinterfragen. Und so weiter und so fort. Dabei entsteht einerseits ein immer realistischeres Bild der Situation und andererseits bringen wir das Wesentliche immer besser zum Vorschein.

Und wann haben wir unser Ziel erreicht? Wenn wir das Wesentliche in der Situation klar und einfach auf den Punkt gebracht haben! Und gleichzeitig haben wir dann ein realistisches, umfassendes und detailliertes Bild von der vorliegenden Situation erhalten.

Ein Bild entwickeln

Doch wir sind noch nicht am Ziel angekommen. Denn das Wesentliche, wie wir es jetzt herausgefunden haben, ist erst einmal ein abstrakter Gedanke. Um den Gedanken ins Leben zu bringen, haben wir ihm einen konkreten Ausdruck zu geben in Form eines Bildes, das möglichst unabhängig von der konkreten Situation ist. Eine Art Symbol, das einerseits für die betrachtete Situation gilt, das sich jedoch auch übertragen lässt auf andere Situationen.

Und es ist dieses entwickelte innere Bild für das Wesentliche, das uns eine Orientierung in den unterschiedlichsten Situationen bietet, das wir im Herzen tragen. Denn haben wir für das Wesentliche ein klares Vorstellungsbild entwickelt, bestimmt es unsere Wahrnehmung. Wir „sehen“ dann die Welt im Lichte dieses Vorstellungsbildes. Mit dem inneren Bild entwickeln wir einen „Sinn“, ein „Gespür“ für das Wesentliche. Das Bild befreit unsere Intuition. Wir brauchen uns dann nicht mehr mühsam irgendwelche Gedanken über die Situation zu machen. Sondern wir „sehen“ dann unmittelbar, wie eine Situation nach unserem inneren Bild umgesetzt werden kann. Und nicht nur in dieser einen Situation. Das Bild gibt uns eine sichere Orientierung in der Wahrnehmung in den verschiedensten Situationen.

Bilder für den Wesenskern

Besonders hilfreich sind innere Bilder für unseren Wesenskern, also für unsere prägende Persönlichkeitseigenschaft.

Betrachten wir ein Beispiel: Einen Menschen mit dem Wesenskern „Machen und Tun“. Das tätige Sein ist seine prägende Persönlichkeitseigenschaft. Das innere Bild, das er dafür entwickelt hat, ist eine Blume, die von einer Hummel bestäubt wird. Und der Mensch identifiziert sich jetzt mit der Hummel. Wie die Hummel erledigt er seine Aufgaben. Er „fliegt“ von Blüte zu Blüte, um sie zu bestäuben und den Nektar zu sammeln.

Und dieses Bild lässt sich jetzt auf die unterschiedlichsten täglichen Situationen übertragen. So fragt sich der tätige Mensch: Was gibt es hier für mich zu tun? Was kann ich hier machen? Wie kann ich hier helfen? Und um eine Antwort auf die Frage zu finden, braucht er jetzt die Situation nicht aufwendig zu analysieren, oder sich komplizierte Gedanken zu machen. Mit dem inneren Bild „sieht“ er die Antwort unmittelbar, weiß wie die Arbeit umzusetzen ist und macht sich munter ans Werk.

Wie bringen wir den Wesenskern zum Ausdruck?

Der Wesenskern bestimmt, Was wir in einer Situation wollen. Um dieses Was zu verwirklichen braucht es ein Wie. Es braucht eine Antwort auf die Frage „Wie können wir unseren Wesenskern zu einem Ausdruck bringen?“ – mit welchem Vorgehen, mit welchem Geschick, mit welcher Freude, mit welcher Hingabe und Zuversicht. Erst der gut entwickelte Methodenkoffer versetzt uns in die Lage, die Aufgabe erfolgreich durchzuführen. Es ist das Wie, mit dem wir unseren Wesenskern zum Ausdruck bringen, das unser Wesen ausmacht.

Wir Menschen haben alle unseren ganz individuellen Wesenskern. Und indem wir für diesen ein klares Vorstellungsbild entwickeln, wie wir den Kern umsetzen, befreien wir uns von der Last des Intellekts. Wichtig dabei ist, dass dieses Vorstellungsbild selbst entwickelt wird, und dass wir es immer wieder mal kritisch hinterfragen: Passt das Bild eigentlich noch zu mir? Ist etwas zu ändern? Oder passt für mich ein anderes Bild vielleicht viel besser? Indem wir uns immer wieder mal diese Fragen stellen, schärfen wir das innere Bild und sorgen dafür, dass es uns eine gute Orientierung bietet.

Das Bild wirkt wie ein Kompass

Verstehen Sie mich nicht verkehrt, ich möchte jetzt hier keinesfalls den Intellekt verdammen. Denn wir brauchen den Intellekt durchaus, um unsere Aufgabe zu einer guten Lösung zu bringen. Ja, dafür ist der Intellekt unentbehrlich. Doch wenn wir unser inneres Bild entwickelt haben, spielt der Intellekt eine untergeordnete Rolle. Denn das Bild gibt die Richtung vor. Das Bild wirkt wie ein Kompass, der uns auf hoher See die Richtung zum Hafen zeigt. Und mit dem Intellekt sorgen dafür, dass das Schiff auf Kurs bleibt und sicher den Hafen erreicht.  Dabei verhindert die Ausrichtung nach dem Bild, dass wir orientierungslos auf dem Meer herumirren und uns mit Gedanken quälen, wie wir denn den Hafen erreichen könnten….

Wir werden zu freien, eigenständigen Menschen, wenn wir unser Sein nach einem passenden inneren Bild für das Wesentliche ausrichten. Mehr und mehr verkörpern wir dann das, was für uns Wesentlich ist, und das Zufällige, unsere behindernden Ansichten und Meinungen, fallen immer mehr von uns ab. Und auch dazu hatte Antoine de Saint Exupéry einen passenden Spruch:

Für den Menschen gibt es nur eine Wahrheit,

das ist die, die aus ihm einen Menschen macht.

Antoine de Saint Exupéry

Wir werden zu liebenden Menschen

Und wenn wir unsere innere Wahrheit verkörpern, wenn wir unser inneres Bild soweit entwickelt haben, dass es unser gesamtes Denken, Fühlen und Handeln prägt, wenn der Zufall abgefallen ist, wenn wir unsere Triebe und Affekte in den Griff bekommen haben, wenn wir auf unsere eigenen Ansichten und Meinungen nicht mehr beharren, sondern sie konstruktiv in die Gestaltung der Situationen einbringen, dann können wir uns so wie wir sind akzeptieren, dann haben wir eine klare Vorstellung von unserem Selbst, dann haben wir einen Sinn in unserem Leben, dann können wir zu unseren Mitmenschen unvoreingenommen die Hand ausstrecken, dann können wir unsere Beziehungen bewusst gestalten, dann können wir – weil wir uns selbst lieben – den Nächsten lieben, dann sehen wir mit dem Herzen.

Quellen: