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Überwinden der Aggression

Wir Menschen sind soziale Wesen. Doch stellt uns das Miteinander immer wieder vor Herausforderungen, denn häufig ist es durch Meinungsverschiedenheiten geprägt, die allzu leicht zu Aggressionen und Streitereien führen können. Doch wie kann ein Miteinander gelingen, so dass es aufbauend und konstruktiv ist? Wie können wir unser Gegenüber achten und respektieren? Wie können wir unsere Aggressionen überwinden? In diesem Artikel möchte ich auf diese Frage eine Antwort geben.

Schauen wir bei den Tieren

Tiere können sowohl gesellig als auch aggressiv sein. [1] Um die Aggressionen im Miteinander zu überwinden, haben sie beschwichtigende und bindende Riten entwickelt. So sind aggressive Tiere, die in Gruppen leben, ständig in Aktion, um den Frieden zu bewahren. Zum Beispiel drängen sich Seelöwenbullen zwischen streitende Weibchen ihrer Gruppe und grüßen dabei zu allen Seiten, wodurch die Aggression abgebaut wird. Oder ranghohe Paviane greifen gezielt in den Streit zwischen Gruppenmitgliedern ein, indem sie ihnen drohen. Und nützt dies nichts, so greifen sie selbst an, was den Streit sofort beendet.

Neben diesen Beschwichtigungsriten spielen auch Grußriten eine große Rolle. Versäumt es ein Nachtreiher beim Landen am Nest, die Seinen zu grüßen, dann wird er von Kindern und Ehepartner mit Schnabelhieben attackiert.

Noch weiterentwickelt ist das Verhalten bei den flugunfähigen Galapagos Kormoranen. Die Kormorane brüten dicht an dicht auf den Lavafelsen an den Ufern der Inseln, wobei sie mit weit aufgerissenem Schnabel nach ihren Artgenossen schnappen, die dem Nest zu nahekommen. Doch die Kormorane attackieren nicht nur die unliebsamen Artgenossen, sondern auch den ankommenden Ehepartner, sofern dieser nicht ein kleines Mitbringsel dabeihat – sei es etwa ein Büschel Seetang, ein Zweig oder ein Stückchen Holz. Durch das Gastgeschenk wird die Aggression überwunden und verschafft dem Ehepartner Zugang zu dem Nest.

Schauen wir bei uns Menschen

Auch wir Menschen haben Riten für ein konfliktfreies Miteinander entwickelt – ganz ähnlich denen der Tiere. Seien es etwa die verschiedenen Arten der Begrüßung, die Benimmregeln, die Höflichkeit und Etikette. Die Riten prägen ganz maßgeblich die Kultur unseres Miteinanders [1], wobei in den verschiedenen Kulturen durchaus unterschiedliche Verhaltensweisen entstanden sind.

Der Freiherr von Knigge sammelte eifrig die verschiedenen Riten oder Benimmregeln in unserem Kulturkreis und veröffentlichte 1788 einen Ratgeber für das Taktgefühl und die Höflichkeit im Miteinander mit dem Titel: „Über den Umgang mit Menschen.“ [2] Bei der Lektüre erscheint vieles auch heute noch aktuell. Betrachten wir zwei Beispiele:

Respektiere Dich selbst und habe Zuversicht zu Dir selber!

Respektiere Dich selbst, wenn Du willst, dass andere Dich respektieren sollen. Tue nichts im Verborgenen, dessen Du Dich schämen müsstest, wenn es ein Fremder sähe. Handle weniger anderen zu gefallen, als um Deine eigene Achtung nicht zu verscherzen, gut und anständig.

Kleine Gefälligkeiten gegen Personen, die unter, neben uns und uns gegenüber wohnen.

Es gibt kleine Gefälligkeiten, die man denen schuldig ist, mit welchen man in demselben Haus, denen man gegenüber wohnt oder deren Nachbarn man ist. Gefälligkeiten, die an sich geringe scheinen, doch aber dazu dienen, Frieden zu erhalten, uns beliebt zu machen, und die man deswegen nicht verabsäumen sollte. Dahin gehört: dass wir Poltern, Lärmen, spätes Türenzuschlagen im Hause vermeiden, anderen nicht in die Fenster gaffen, nichts in fremde Höfe oder Gärten schütten und dergleichen mehr.

Wie bringen wir die Benimmregeln ins Leben?

Etwas abwertend wird der „Knigge“ oft als eine reine Sammlung von Benimm- und Verhaltensregeln angesehen. Also nach dem Motto: mach dies, mach das, mach jenes, und lass dieses auf jedem Fall sein.  Doch so einfach ist die Sache nicht, denn es stellt sich die Frage: wie können wir diese Benimmregeln in unser Leben bringen? Wie können wir uns selbst respektieren? Wie schaffen wir ein gutes Auskommen mit unseren Nachbarn? Indem wir einfach diese Benimmregeln befolgen? Dann machen wir uns allzu leicht zu ihren Marionetten. Dann sind wir die ganze Zeit nur damit beschäftigt, diesen Benimmregeln möglichst gut zu entsprechen. Doch dahinter bleibt unsere eigentliche Absicht, das was wir im Miteinander erreichen wollen, allzu leicht auf der Strecke, und das ganze Miteinander erstarrt in der Etikette.

Sicher, wir brauchen gewisse Benimmregeln in unserem Miteinander. Sonst herrscht Chaos und Anarchie. Doch wir haben dabei darauf zu achten, dass wir uns nicht zu Opfern der Benimmregeln machen. Dass wir stattdessen passende Lösungen für unsere Fragen und Anliegen entwickeln.

Der springende Punkt ist: bei den Tieren funktionieren die entwickelten Riten. Die Aggressionen werden überwunden, und dann bestimmt der Instinkt das Verhalten. Doch wir Menschen sind nicht so instinktgeprägt wie die Tiere. Wir haben in vielen Situationen kein inneres Programm, das uns vorschreibt, wie wir uns zu verhalten haben. Ja wir können mit den Benimmregeln Aggressionen überwinden, können damit Beziehungen knüpfen. Doch dann stehen wir vor der Frage: Was jetzt? Was wollen wir in der Situation? Denn in dem Punkt helfen uns die Benimmregeln nicht weiter. Stattdessen sind wir auf uns selbst gestellt.

Was wollen wir wirklich?

Doch wir Menschen haben mit unserem hoch entwickeltem Bewusstsein die großartige Möglichkeit, unser Leben und die täglichen Situationen selbst zu gestalten. Wir können uns die Frage stellen: Was wollen wir wirklich? Was ist in der konkreten Situation unser zentrales Anliegen? Was ist hier das Wesentliche?[3] Und finden wir im Miteinander auf diese Frage eine Antwort, dann haben wir ein gemeinsames Ziel: Wir wollen dieses Wesentliche zu einem Ausdruck bringen! Wir ziehen gewissermaßen alle an einem Strang. So werden wir offen für die Beiträge der anderen. Jeder kann sich mit seinen ganz individuellen Möglichkeiten einbringen: der eine klärt Fragen, der andere schafft die Übersicht, der nächste fällt Entscheidungen, organisiert, vermittelt oder macht und tut. Die einzelnen Beiträge werden zusammengebracht und angepasst, so dass ein attraktives Lösungsbild entsteht, dass wir dann verwirklichen.

Wie bei einem Puzzle werden von den beteiligten Personen die einzelnen Beiträge zusammengefügt, so dass ein gemeinsam entwickeltes Bild entsteht.

Als Resultat entsteht ein gemeinsam entwickeltes Bewusstsein, eine verbindende Vorstellung, nach der die Situation neu ausgerichtet wird. Dabei erfüllt die Beteiligten mehr und mehr eine Verbundenheit, ein Einheitsgefühl. Und dieses Gefühl nennen wir Liebe.

Fazit

Wir Menschen können unsere Aggressionen im Miteinander überwinden, indem wir uns fragen: Was ist in der vorliegenden Situation das Wesentliche? Etwas, das alle Beteiligte möchten, und für das dann gemeinsam eine attraktive und tragfähige Lösung geschöpft und verwirklicht wird. Und haben wir im Miteinander dem Wesentlichen einen passenden Ausdruck gegeben, dann erfüllt uns eine heitere Verbundenheit – die Liebe.

So schaffen wir eine neue Kultur des Miteinanders, die maßgeblich durch das Bewusstsein für das Wesentliche in der aktuellen Situation geprägt ist und weniger durch die entwickelten Riten [4].

Ein Beispiel für diese Art des Miteinanders finden Sie hier.

Quellen

[1] Irenäus Eibl-Eibesfeldt; Liebe und Hass – Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen, Serie Piper, München, 1982

[2] Adolf Freiherr von Knigge; Über den Umgang mit Menschen, Insel Verlag, Berlin, 2016  

[3] Was ist das Wesentliche?

[4] Eine neue Kultur des Miteinanders