Xanthippe: Sag Sokrates, was bewegt uns eigentlich zu unserem Handeln? Was motiviert uns und treibt uns voran?
Sokrates: Unsere Bedürfnisse.
Xanthippe: Hm, jetzt unterscheiden wir zwischen körperlichen und seelischen Bedürfnissen. Sag, was ist da der Unterschied und wie hängen die beiden zusammen?
Sokrates: Ja einerseits haben wir die körperlichen Bedürfnisse, also zu essen, zu trinken, ein Dach über dem Kopf zu haben, in Sicherheit zu leben und so weiter.
Xanthippe: Und das Befriedigen dieser Bedürfnisse sichert unsere Existenz, unser Leben.
Sokrates: Genau. Im Gegensatz dazu bestimmen die seelischen Bedürfnisse unsere Persönlichkeitseigenschaften. Statt von seelischen Bedarfen können wir deshalb auch gut von persönlichen Bedarfen sprechen. Sie geben an, wie wir den körperlichen Bedarf zu einer Lösung bringen.
Xanthippe: Ah so. Wenn wir etwas zu essen haben wollen, dann befriedigt das Essen unseren körperlichen Bedarf, den Hunger zu stillen. Und wenn wir uns darüber hinaus die Frage stellen, wie wir das Essen zubereiten, dann befriedigt das unseren seelischen Bedarf?
Sokrates: Ja, der körperliche Bedarf ist die reine Nahrungsaufnahme, und der seelische Bedarf sorgt dafür, dass etwas Ordentliches auf den Tisch kommt. Durch die Befriedigung des seelischen Bedarfs wird die Situation in gewisser Hinsicht aufgewertet, sie macht das Essen attraktiv und angenehm, hebt es heraus aus dem Bedürfnis der reinen Nahrungsaufnahme.
Xanthippe: Doch ich glaube, wir können uns erst mit unseren seelischen Bedarfen befassen, wenn unsere körperlichen Bedarfe zu einer gewissen Befriedigung gekommen sind. Denn ich stelle mir erst die Fragen, wie ich ein Essen zubereite, wenn ich sicher weiß, dass ich die nötigen Zutaten dafür auch bekomme.
Sokrates: Der springende Punkt ist, sowohl die körperlichen als auch die seelischen Bedarfe haben wir immer. Die körperlichen Bedarfe sichern unser Leben, unsere Existenz. Die seelischen Bedarfe bilden die Grundlage für unser eigenständiges Handeln, unser Fühlen und Denken. Doch wir sind uns der seelischen Bedarfe in der Regel nicht bewusst. Sie sind überschattet durch unsere körperlichen Bedarfe, die triebhaft in uns veranlagt sind.
Xanthippe: Und nicht nur das. Weiter werden unsere persönlichen Bedarfe noch durch unsere Gewohnheiten, unseren vorgefertigten Meinungen und Ansichten verdeckt.
Sokrates: Ja wenn wir eine Situation ganz automatisch nach den Gewohnheiten und Meinungen ausrichten, ohne sie konkret zu hinterfragen, ohne zu wissen, warum diese Gewohnheit in der Situation angemessen ist, dann behindert auch dies das freie Ausleben unserer Persönlichkeit.
Xanthippe: Wir sind dann wie Marionetten. Marionetten unserer eigenen Gewohnheiten und Meinungen.Und wie ist das mit unserem Intellekt?
Sokrates: Oh da wird’s kompliziert! Denn unser Intellekt steht dem freien Ausleben unserer Persönlichkeit auch oft im Wege. Mit unserem Intellekt machen wir uns unsere eigenen Gedanken über die Situation und schaffen uns unser eigenes Bild, wie wir meinen, dass die Situation sei.
Xanthippe: Und was soll daran schlecht sein?
Sokrates: Nun dieses geschaffene Bild braucht mit der Realität nicht übereinzustimmen.
Xanthippe: Du meinst wir sehen dann nicht das, was ist, sondern das, was wir uns denken?
Sokrates: Ja genau. In unserem Alltag ist unser Intellekt sehr hilfreich. Doch um unseren seelischen Bedarf in der Situation einen Ausdruck zu geben, brauchen wir eine andere Denkweise. Dann haben wir unvoreingenommen zu schauen: Was ist der wesentliche Bedarf in der Situation? und weiter: Wie können wir diesen Bedarf zu einer Lösung bringen?
Xanthippe: Aha, für ein richtig freies Ausleben unserer Persönlichkeit, haben wir die Situation im Lichte unserer seelischen Bedürfnisse zu betrachten!
Sokrates: Ja, unsere seelischen Bedürfnisse geben uns eine Orientierung und zeigen uns auf, was wir als Persönlichkeit in der Situation brauchen, was in der Situation zu tun ist, wo der Schuh drückt. Und durch die Befreiung des seelischen Bedarfs kommen wir oftmals auch zu einer leichteren Lösung für unseren körperlichen Bedarf.
Xanthippe: Toll! Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn häufig sind unsere seelischen Bedarfe ja überdeckt von unseren Ansichten.
Sokrates: Genau! Die eigenen Ansichten hindern uns häufig daran, unseren seelischen Bedarf in einer Situation zu erspüren, ihn aufzugreifen und zu einer Lösung zu bringen.
Xanthippe: Dazu fällt mir eine Geschichte ein:
Püfferchen
Ach wie gut schmeckten uns als Kinder die Pfannkuchen. Mehlpfannkuchen, Apfelpfannkuchen, Blaubeerpfannkuchen, lieber noch Kartoffelpfannkuchen mit Apfelbrei oder Rübenkraut und ganz besonders gerne Püfferchen. Vorzugsweise von Tante Frieda, denn sie machte die besten, darin waren sich alle einig. Was dazu führte, dass es bei uns zu Hause gar keine Püfferchen gab – viel zu aufwendig und kompliziert der Teig mit der Hefe und an Tante Friedas Püfferchen könnten ihre ja sowieso nicht ticken, meinte Mutti.
Es waren Herbstferien, wir fahren eines Abends zum Kartoffelholen in die Senne. Tante Änne steht in der Küche und backt Püfferchen. „Du kannst Püfferchen backen? Ich dachte das kann in unserer Verwandtschaft nur Tante Frieda!“ rief Mutti. „Das kannst Du auch! Ist ganz einfach. Sei nur nicht so sparsam mit den Eiern. Ich nehme ein Ei mehr aufs Rezept als Frieda, dann werden die Püfferchen beim Backen goldgelb und bleiben locker.“ Wir probieren, frisch aus der Pfanne – lecker! Und bekommen noch eine gute Portion mit nach Hause.
Bald darauf wagt sich Muttern ans Püfferchen backen nach Rezept von Tante Änne und wir essen mit Freude und Genuss alle bis zum Letzten auf. Von da an gibt es öfter mal Püfferchen. Ob diese allerdings so lecker sind, wie die von Tante Frieda? Nun, das kann ich gar nicht sagen. Von Tante Friedas Püfferchen wurde immer so viel erzählt, doch zu essen habe ich nie einen abbekommen.
Sokrates: Ja sehr schön. Ich glaube, jeder kennt so eine Tante Frieda, die, ohne es selbst zu beabsichtigen, durch ihre Perfektion andere einschüchtert und daran hindert, ihre Vorstellungen eigenständig auszuleben. Doch diese Geschichte zeigt auch sehr schön, wie wir uns aus dieser Fessel befreien können.
Xanthippe: Und wie soll das funktionieren?
Sokrates: Gehen wir Schritt für Schritt vor. Also was ist der körperliche Bedarf in dieser Situation.
Xanthippe: Etwas zu essen kochen.
Sokrates: Und was ist der seelische Bedarf bei der Mutter?
Xanthippe: Nun sie möchte für ihre Lieben etwas Gutes kochen, ihnen eine Freude bereiten. Und die Püfferchen, ja die sind das Mittel dazu, die sind so lecker, die mögen alle so gern.
Sokrates: Genau. Doch zu Anfang kann die Mutter diesen seelischen Bedarf gar nicht frei zu einem Ausdruck bringen. Sie hat zwar die Sehnsucht, Püfferchen zu backen, doch der Vergleich mit Tante Frieda schüchtert sie derart ein, dass sie sich gar nicht aufraffen kann, selber welche zu backen.
Xanthippe: Ihr Bedarf ist überschattet. Er kommt gar nicht zu einem freien Ausdruck.
Sokrates: Ihr Handeln ist blockiert.
Xanthippe: Und wie können wir das Handeln in der Situation befreien?
Sokrates: Ja sag! Was meinst Du?
Xanthippe: Da ist die Tante Änne, die sagt: Das kannst Du auch!
Sokrates: Doch das allein genügt nicht. Nur durch gutes Zureden: Du kannst das! Du machst das! Du schaffst das!, werden wir noch nicht aktiv. Da braucht es noch etwas.
Xanthippe: Die Tante Änne hat es vorgemacht, wie leckere Püfferchen zu backen sind.
Sokrates: Ja das ist’s!
Xanthippe: Und dazu kommt noch: das Resultat ist direkt zu sehen und zu probieren!
Sokrates: So entsteht eine ganz konkrete Vorstellung davon, wie leckere Püfferchen zu machen sind, dass das kein Hexenwerk ist, sondern, dass im Grunde Jeder leckere Püfferchen backen kann.
Xanthippe: Und diese konkrete Vorstellung, die beseitigt den Schatten, die Befreit das Handeln!
Sokrates: Ja. Es ist die konkrete Vorstellung des Wie, also hier wie wir die Püfferchen backen, die unser Handeln aktiviert und mit dem wir alte Vorstellungen überwinden können.
Xanthippe: Erstaunlich. Und ist der seelische Bedarf befreit, bringen wir den zu einer Lösung, dann erfüllt sich der körperliche Bedarf wie von selbst.
Sokrates: Die Voraussetzung für das Überwinden der Schatten, ist die Entwicklung einer konkreten Vorstellung Wie der seelische Bedarf zu einer Lösung gebracht werden kann.
Xanthippe: Gut in diesem Beispiel ist es das Vorbild, ist es die Tante Änne, die uns zeigt, wie Püfferchen zu backen sind. Doch wie kommen wir alleine darauf, unsere Schatten zu überwinden?
Sokrates: Dazu haben wir zuerst den seelischen Bedarf in der Situation klar zu identifizieren und dann im nächsten Schritt haben wir die Frage zu stellen: wie können wir diesen Bedarf in der Situation zu einem freien Ausdruck bringen?
Xanthippe: Dafür braucht es eine Idee, einen Gedanken, der eine neue Perspektive für die Situation bietet und der dann soweit zu klären ist, bis alle unsere behindernden Ansichten aus dem Wege geräumt sind, um dann voll motiviert zur Tat zu schreiten.
Sokrates: Ja schon. Doch sag mal ganz konkret: Wie geht das in unserem Beispiel mit den Püfferchen?
Xanthippe: Ja die Püfferchen sind die Idee, der Ansatz. Mit den Püfferchen will die Mutter ihrer Familie eine Freude bereiten.
Sokrates: Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es jetzt aber eine konkrete Antwort auf die Frage: Wie kann ich leckere Püfferchen backen? Goldbraun sollen sie sein und locker!
Xanthippe: Ja durch bloßes Grübeln können wir die Antwort nicht finden. Stattdessen ist die Versuchsküche zu öffnen! Ich habe völlig unvoreingenommen auszuprobieren: Wie grob sind die Kartoffeln zu reiben? Wie ist das mit dem Salz? Wieviel Eier nehme ich? Wie lange hat der Teig zu gehen? Was ist das passende Öl zum Backen? Und so weiter….
Sokrates: Wir werden wie Kinder. Erwachsene Kinder. Die Küche ist unser Sandkasten.
Xanthippe: Dabei sind Hinweise und Tipps hoch willkommen. Etwa: sei nicht so sparsam mit den Eiern.
Sokrates: Doch ich übernehme diese Anregungen nicht einfach. Ich prüfe sie selbst.
Xanthippe: Dabei erfahren wir durchaus auch Misserfolge und Rückschläge.
Sokrates: Sicher. Doch die Kunst besteht darin, sich von den Misserfolgen nicht einschüchtern zu lassen, sondern aus ihnen zu lernen und es das nächste Mal besser zu machen.
Xanthippe: Ja und als Resultat entsteht eine immer vollständigere, eine immer konkretere Vorstellung davon, wie ich selbst leckere Püfferchen machen kann.
Sokrates: Und so schaffen wir unser eigenes Püfferchenrezept. Wir schaffen selbst das Vertrauen, die Zuversicht, gute Püfferchen backen zu können. Und diese Vorstellung weckt die Courage zur Tat!
Xanthippe: Und der Schatten, die Tante Frieda?
Sokrates: Die hat in der Versuchsküche schlicht nichts zu suchen. Allerdings zum Schluss, also wenn wir mit unseren Püfferchen schon ganz zufrieden sind, dann haben wir uns dem Vergleich zu stellen.
Xanthippe: Also ich habe mich richtig intensiv mit der Situation auseinanderzusetzen und dafür eine eigenständige Lösung zu finden, eine Lösung, die für mich passt!
Sokrates: Genau. Zugegeben, alleine ist das gar nicht so einfach. Denn meistens haben unsere Schatten eine lähmende Wirkung. Dann können und wollen wir uns gar nicht aufraffen, die Situation zu betrachten, geschweige denn, etwas an ihr zu ändern. Dann arrangieren wir uns mit unserer Situation und meinen, es könne gar nicht anders sein.
Xanthippe: Was Du da forderst erinnert mich irgendwie an den Mann an der Klippe, der bereit ist das Alte hinter sich zu lassen und springt. Er weiß noch gar nicht, ob er fliegen kann und das Grübeln darüber bringt ihn auch nicht weiter. Doch es gibt kein Zurück. Er ist entschlossen. Er springt.
Sokrates: Ja das ist der Fall, wenn die Not sehr groß ist. Wenn es einfach so wie bisher nicht mehr weitergehen kann. Wenn es nur noch die Flucht nach vorne gibt. Dann werden wir nicht nur bereit, dann werden wir geradezu gezwungen, das Alte radikal hinter uns zu lassen. Dann werden wir in die neue Situation hineingestoßen und haben uns in ihr zurecht zu finden.
Xanthippe: Doch in unserem Alltag ist die Not zum Glück meistens nicht so groß.
Sokrates: Ja zum Glück. Aber dennoch stehen uns die Schatten im Alltag häufig im Wege. Und da hilft es immer, sich intensiv mit der Situation auseinanderzusetzen und den seelischen Bedarf herauszufinden, der zu einem Ausdruck kommen möchte. Sich zu fragen: Wo drückt der Schuh? Und haben wir den Bedarf klar auf den Punkt gebracht, dann kommen uns wie von selbst die Ideen, wie der Bedarf in der Situation mehr zu einer Lösung kommen kann. Und erst wenn wir eine klare Vorstellung von der Lösung haben, wenn diese uns attraktiv, möglich und erstrebenswert erscheint, erst dann lassen wir das Alte los und wagen das Neue.
Xanthippe: Oder anders ausgedrückt: wir springen erst von der Klippe, wenn wir sicher sind, dass wir auch fliegen können!
Sokrates: Ja genau. Wir spannen kein Sicherheitsnetz. Wir sorgen dafür, dass wir fliegen lernen!
Xanthippe: Erstaunlich, bei dem Vorgehen spielen die Schatten gar keine Rolle.
Sokrates: Ja wir gehen nicht von den Schatten aus, sondern wir gehen von unserer Sehnsucht aus und schaffen für diese eine attraktive Lösung.
Xanthippe: Schön und gut. Doch ich kriege das für mich alleine nicht hin. Das erfordert einen zu starken Willen und eine ungeheure Selbstdisziplin. Alleine bin ich immer in meinen Schatten gefangen. Ich brauche jemanden, der mich da herausholt, der mich bei der Hand nimmt und durch den Prozess führt.
Sokrates: Dafür weisen die guten Gespräche den Weg. Und es ist die Aufgabe des Gesprächsführers, den zentralen seelischen Bedarf in der Situation zu identifizieren und weiter die Gesprächsteilnehmer zu inspirieren und zu unterstützen, um gemeinsam eine tragfähige Lösung zu entwickeln.
Übersicht der seelischen Bedarfe: