Ja Wesentlich werden, das möchten wir! Dann fällt das ganze Unnötige, das Überflüssige weg und wir können uns dem widmen, was für uns wirklich wichtig ist, was wir wirklich wollen. Doch es stellt sich die Frage: wie können wir wesentlich werden? Und was steht diesem Wesentlichen häufig im Weg?
Nun, betrachten wir folgende Geschichte mit Mullah Nasrudin:
Der verlorene Schlüssel
Eines Abends kniete Mullah Nasrudin neben einer Laterne und suchte etwas auf der Straße. Da kam ein Freund vorbei und fragte, was er denn suche.
„Meinen Schlüssel, ich habe meinen Schlüssel verloren“, antwortetet Nasrudin. Das erklärte natürlich, wieso der Mulla auf dem Boden kniete. Da der Freund aufrichtig war, half er Nasrudin bei der Suche nach dem Schlüssel.
So suchten die beiden im Schein der Laterne nach dem Schlüssel. Und suchten, und suchten. Es wurde immer später, doch sie fanden den Schlüssel nicht. Um Mitternacht sagte der Freund sodann: „Nasrudin, wir haben jetzt jeden Stein dreimal umgedreht. Dein Schlüssel ist nicht hier. Wo hast du ihn denn verloren?“
Der Mullah streifte sich den Staub vom Gewand und antwortete: „Dort hinten in dem Gebüsch habe ich ihn verloren.“ Der Freund traute seinen Ohren nicht und erwiderte ungläubig: “Aber wieso suchen wir dann hier unter dieser Laterne, und nicht dort hinten, wo du den Schlüssel verloren hast?“
Mulla Nasrudin schmunzelte: „Das ist doch ganz klar. Weil es hier im Laternenschein viel angenehmer ist zu suchen.“
Ja jetzt mögen wir über den Nasrudin lachen, wie dumm er doch ist, da unter der Laterne zu suchen, wo doch der Schlüssel in das Gebüsch gefallen ist. Doch halt. Nicht so schnell. Denn wie oft ergeht es uns so wie dem Nasrudin. Wie oft machen wir etwas unüberlegt und einfach aus der Gewohnheit heraus, obwohl die Situation doch eigentlich etwas ganz anderes erfordert. Wir sind dann wie gefangen in der Situation und können sie aus eigener Kraft gar nicht ändern, weil wir meinen: Es muss so sein. Es geht doch gar nicht anders. Ja da braucht es dann einen Stubbs von außen. Jemand, der uns fragt: Warum machst Du das eigentlich? Und dann betrachten wir die Situation auf einmal in einem neuen Licht. Und plötzlich wird uns klar, dass unser Handeln gar nicht zielführend ist und dass wir es zu ändern haben.
Wir können die Situation vergleichen mit einer Berglandschaft:
In dem Bild haben wir drei Punkte, an denen wir eine Kugel ablegen können. Oben auf dem Berg und dann in den beiden Tälern auf den Seiten des Berges. Dabei ist die Lage auf dem Gipfel instabil: stoßen wir die rote Kugel leicht an, so rollt sie den Berg hinab. Dagegen ist die Lage in den beiden Tälern stabil: geben wir den grünen Kugeln einen Stubbs, so bewegen sie sich ein wenig hin und her, um schließlich wieder an dem tiefsten Punkt der beiden Täler zum Liegen zu kommen.
Dieses Bild können wir auf die Situation mit dem Mullah Nasrudin übertragen. Dafür haben wir einen Berg zu betrachten, in dessen Abhang sich eine Mulde, ein Seitental befindet, von dem aus der Weg über einen Zwischengipfel weiter bis zum Fuße des Berges hinab führt:
Und was hat dieses Bild jetzt mit der Geschichte mit dem Nasrudin zu tun?
Nun, Nasrudins Suche im Lichte der Laterne entspricht hier der Lage in dem Seitental. Hier macht und tut Nasrudin. Doch es ist nicht wirklich zielführend. Denn er ist noch nicht am Fuße des Berges angekommen und er wird seinen Schlüssel unter der Laterne niemals finden. Die Mulde gibt zwar der Situation eine gewisse Stabilität, doch indem wir in der Mulde verharren, kommen wir nicht zu dem gewünschten Ziel. Dafür haben wir uns aufzuraffen, den Zwischengipfel zu erklimmen und von dort aus weiter in das Tal herabzusteigen.
Doch Nasrudin hat es sich in seiner Mulde bequem gemacht, er hat sich mit seiner Situation arrangiert und sucht den Schlüssel im Lichte der Laterne. Und er denkt überhaupt nicht daran, die Sache zu ändern. Erst als sein Freund ihn fragt: Wo hast Du denn den Schlüssel verloren? wird klar, dass die bisherige Suche vergebens war. Dass sie sich aufraffen müssen, die „Mulde“, das Gewohnte hinter sich zu lassen und den Zwischengipfel zu erklimmen und den Schlüssel im Gebüsch zu suchen. Nur so können sie ihr Ziel erreichen und zum Wesentlichen in der Situation vordringen – zum Schlüssel.
Veränderungen erfordern Einsatz
Doch eine Veränderung, das Loslassen von dem Gewohnten und Aufbrechen zu dem Neuen, erfordert Kraft und Einsatz. Denn wir haben den Zwischengipfel zu überwinden. Und dazu sind wir nur bereit, wenn sich der Aufwand lohnt. Wenn wir erkennen, dass wir unsere Energie bisher in eine „Mulde“ in einen „Nebenschauplatz“ gesteckt haben, und dabei unser eigentliches Ziel gar nicht erreichen können.
Damit wir uns jetzt aufraffen, die Situation zu verändern, hat uns das Ziel so wichtig zu sein, dass wir bereit werden, die mit einer Veränderung verbundenen Strapaze auf uns zu nehmen. Es muss eine Sehnsucht sein, ein Herzenswunsch. Doch wir schaffen es nur selten aus eigener Kraft, uns auf den Weg zu machen und die Situation zu verändern. Oft braucht es dafür einen Stubbs von außen. Der Stubbs befreit uns, die Situation einmal in einem neuen Licht zu betrachten, und zu erkennen, was wir da eigentlich machen. Er kann uns die Energie verleihen, den Zwischengipfel zu überwinden.
So kann ein Stubbs sehr hilfreich sein. Doch seien wir ehrlich, so ein Stubbs kann auch mächtig nach hinten losgehen. So wissen wir nicht, wie die Geschichte mit Nasrudin weiterging: ob sich die beiden jetzt wirklich aufgemacht haben, um in dem Gebüsch nach dem Schlüssel zu suchen, oder ob der Freund wütend wurde und einen Streit mit Nasrudin lostrat, da er meinte, seine Zeit nutzlos verplempert zu haben und er sich von Nasrudin veräppelt fühlte.
Durch einen passenden Stubbs, durch eine passende Frage, können wir erkennen, was unsere Sehnsucht, was das Wesentliche in einer Situation ist. Doch es liegt an unserer Reaktion, ob wir die Sehnsucht weiter aufgreifen, die Strapaze auf uns nehmen und den Nebengipfel erklimmen, um unseren Herzenswunsch zu einer Lösung zu bringen – oder ob wir in der Mulde verharren, sauer werden und einen Streit vom Zaune brechen, da sich unsere ganzen bisherigen Mühen als vergebens herausgestellt haben. So haben wir mit unserem gutgemeinten Stubbs durchaus vorsichtig zu sein.
Es liegt in unserer Hand, wie wir auf den Stubbs reagieren
Der Stubbs ist unverzichtbar, wenn wir die Situation wirklich verbessern wollen. Denn erst wenn wir erkennen, was wir in einer Situation wirklich wollen, und dafür unsere Energie gezielt einsetzen, anstatt sie in „Nebenschauplätzen“ oder Streitereien zu vergeuden, können wir das Unnötige hinter uns lassen und unserem Leben Fülle geben.