Geschichten prägen unser Leben. Dessen sind wir uns meistens nicht bewusst. Doch es sind die Geschichten, die wir uns erzählen, die maßgeblich unser Verhalten, Denken und Handeln bestimmen. Dabei haben Geschichten die Kraft, das Leben zu verändern – unsere Vorstellungen, die Art wie wir etwas betrachten und tun. Und so brauchen wir heute neue Geschichten, damit wir unsere drängenden Probleme in den Griff kriegen und auf dieser Erde auch in Zukunft erfolgreich leben können.
Wir Menschen mögen Geschichten. Geschichten, die einen Moment des Lebens einfangen, ihn herausheben und zu etwas Besonderem machen. Geschichten, die uns aus dem täglichen Einerlei entführen, die uns fesseln und erheitern, so dass wir für den Moment unsere Probleme und Sorgen vergessen können.
Die Heldenreise
Besonders beliebt sind Heldengeschichten. Ja wir wollen Helden. Helden werden verehrt. Sei es Odysseus, wenn er seine Abenteuer besteht, sei es Siegfried in der Nibelungensage, sei es Hermann der Cherusker, Hänsel und Gretel, das tapfere Schneiderlein, die Kommissare in den Krimis oder die Helden in den Hollywood Filmen. Immer treffen wir auf Helden. Ja, das sind Geschichten, die wir mögen!
Dabei ist das Strickmuster dieser Heldengeschichten denkbar einfach: es gibt ein Problem, das der Held löst. Und natürlich geht das Ganze nicht so einfach und reibungslos über die Bühne. Auf dem Weg gibt es Krisen und Auseinandersetzungen, bei denen sich der Held schließlich durchsetzt.
Der Ansatz wurde von Joseph Campbell systematisch analysiert [1] und gilt heute als Erfolgsmodell für das Geschichtenerzählen oder wie es neudeutsch heißt: für das Storytelling [2]. Nach diesem Muster werden heute die meisten Geschichten gestrickt: fürs Kino, fürs Fernsehen, fürs Theater, in Büchern, aber auch in Unternehmen, etwa für die Werbung oder um die Unternehmensziele erfolgreich zu vermitteln. Dabei ist der Grundgedanke immer der gleiche: wir möchten als Held dastehen, der die Schwierigkeiten in den Griff kriegt.
In den Heldengeschichten gibt es eine klare Rollenverteilung: Es gibt das Gute und das Böse, das Problem und seine Lösung, die Niederlage und den Sieg. Ja es sind klare Schwarz-Weiß Muster, die die Heldenreise prägen, wobei sich letztlich immer das Gute durchsetzt, der Held.
Doch halt. Wo es einen Helden gibt, gibt es oft auch einen Besiegten. Aber der wird nicht in den Vordergrund gerückt. Denn wir wollen alle auf dem Siegertreppchen stehen, und die Besiegten, nun die beachten wir nicht weiter.
Die Heldengeschichten bestimmen unser Leben. Zum Beispiel wenn wir miteinander reden. Auch da wollen wir allzu oft als Sieger dastehen. Deshalb üben wir uns in Rhetorik und in psychologischer Gesprächsführung, damit wir das Gegenüber von unserem Standpunkt möglichst gut überzeugen können und uns durchsetzen.
So ist unser ganzes Leben maßgeblich von der Heldenreise und dem damit verbundenen Gewinner-Verlierer-Denken geprägt. Doch dahinter liegt immer ein Konflikt. Und anstatt uns jetzt die Frage zu stellen: Wie kann ich mich als Held durchsetzen?, können wir uns die Frage stellen: Wie können wir den Konflikt möglichst gut lösen, so dass es für alle Beteiligte passt?
Es geht auch ohne Helden
Jetzt erreichen wir ein gelingendes Miteinander sicher nicht, indem jeder versucht, seine eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Stattdessen können wir uns fragen: was erfordert die Situation? Was ist hier das Wesentliche? Was möchte in der Situation mehr zu einem Ausdruck gebracht werden? Mit dieser Fragestellung treten unsere eigenen Meinungen und Vorstellungen in den Hintergrund. Und wir stellen fest: das Durchsetzen unserer eigenen Ansichten ist eigentlich gar nicht so wichtig. Stattdessen geht es darum, für die Situation eine möglichst gute Lösung zu finden. Und dabei bringt sich jeder mit seinen Möglichkeiten ein. (Siehe auch: Vielfalt im Einklang – Dem Leben Fülle geben)
Jetzt steht bei der Heldenreise die Zielvorstellung des Helden im Vordergrund. Der Held weiß, wie er das Ziel erreichen will. Um seine Vorstellung zu verwirklichen, tritt der Held den Kampf an. Dafür nimmt er Entbehrungen, Leid und Plage auf sich. Doch dabei steht er meistens für sich alleine da. Die anderen sind seine Feinde. Auch ist ihm im Grunde jedes Mittel recht, um sich durchzusetzen und um sein Ziel zu verwirklichen.
Fragen wir uns stattdessen: Wie können wir das Ziel erreichen, so dass ein möglichst gutes Resultat erzielt wird? Dann steht das Wie im Vordergrund, der Weg, wie wir das Ziel erreichen. Der Ansatz führt ins Miteinander. Denn wir kennen das Wie erstmal gar nicht, und wissen nicht, wie das Ziel zu verwirklichen ist. Und um es herauszufinden, sind uns die Anregungen und Vorschläge der anderen hoch willkommen.
Dafür haben wir zuerst einmal herauszufinden, was die zentrale Fragestellung in der Situation eigentlich ist, wofür wir ganz konkret eine Lösung finden wollen. Und erst wenn wir diese Frage klar auf den Punkt gebracht haben, machen wir uns daran, im konstruktiven Austausch eine passende Lösung zu finden und so lange weiterzuentwickeln, bis das Ergebnis für uns tragfähig und attraktiv ist.
Dabei gibt es keinen Kampf. Es tut sich keiner als Held hervor. Stattdessen erfüllt alle Beteiligte mehr und mehr eine Freude, eine Leichtigkeit, wenn sie sehen, wie sie durch ihr Zusammenwirken das Problem immer besser in den Griff kriegen und schließlich beheben. Doch betrachten wir eine Geschichte als Beispiel [3]:
Himmel und Hölle
Einst kam ein Mann zum Propheten Elias. Ihn bewegte die Frage nach Himmel und Hölle, denn er wollte seinem Leben einen Sinn geben.
Da nahm ihn der Prophet bei der Hand und führte ihn durch dunkle Gassen in einen großen Saal. In der Mitte des Saals stand ein großer Kessel, in dem eine köstlich duftende Suppe brodelte. Neben dem Kessel lagen gusseiserne Löffel.
Als eine Gruppe hungriger Menschen in den Saal trat, griff jeder sofort nach einem Löffel. Doch sie mussten feststellen, dass die Löffel für sie viel zu schwer, zu lang und zu unhandlich waren, um sie zu heben, um damit die Nahrung zum Mund führen zu können. Da wurden die hungrigen Menschen wütend. Sie fingen an zu schimpfen, und als ihr Hunger, ihre Verzweiflung größer wurde, begannen sie, sich zu prügeln.
Da fasste Elias seinen Begleiter am Arm und sagte: „Siehst du, das ist die Hölle.“
Die beiden verließen den Saal und traten bald in einen anderen. Auch in diesem Saal stand ein Kessel mit Suppe und daneben lagen die großen Löffel. Und auch in diesen Raum trat eine Gruppe hungriger Menschen, die sofort nach den Löffeln griffen. Auch sie merkten, dass die Löffel unhandlich und schwer waren.
Doch einer sagte zu seinem Nachbarn: „Komm hilf mir, der Löffel ist für mich allein viel zu schwer. Ich kann ihn gar nicht heben. Doch zu zweit kriegen wir das sicher hin.“ Und zusammen tauchten sie den Löffel in den Kessel. Gemeinsam schöpften sie die begehrte Suppe. Doch als sie den Löffel zum Mund führen wollten, stellten sie fest: „Der Löffel ist viel zu groß. Wir können ihn gar nicht zu unserem Mund führen. Wir können die Suppe gar nicht essen.“ Keck sprang ein Dritter ein und forderte die beiden auf: „Kommt füttert mich!“
Gesagt, getan. Als die anderen das sahen, fingen sie auch an, gemeinsam die Löffel in die Suppe zu tauchen und sich gegenseitig zu fütterten. Dabei wechselten sie sich in ihren Rollen ab, jeder fütterte mal und wurde mal gefüttert. So wurden alle satt. Der Saal war erfüllt von dem freudigen Summen angeregter Unterhaltung.
Und der Prophet Elias sagte zu seinem Begleiter: „Siehst du, das ist der Himmel.“
Sehen wir uns die Geschichte nun genauer an:
In der Hölle ist jeder der hungrigen Menschen auf sich allein gestellt. Jeder hat das Bedürfnis, satt zu werden. Dieser Wille ist die treibende Kraft. Der Wille veranlasst die Personen zu einem bestimmten Handeln. Doch je mehr die Hungrigen merken, dass sie ihr Ziel mit eigenen Mitteln nicht erreichen können, umso mehr verkrampfen sie sich in ihrem Willen, sie werden wütend und betrachten die Mitmenschen als ihre Feinde. Das Miteinander verhärtet sich immer mehr, bis es in eine handgreifliche Streiterei ausartet. Dabei verlieren die hungrigen Menschen ihr eigentliches Bedürfnis – nämlich satt zu werden – völlig aus den Augen.
Und im Himmel? Auch da sind die Menschen hungrig. Auch sie haben das Bedürfnis satt zu werden. Doch sie treten über ihren reinen Willen – satt zu werden – hinaus und fragen sich: Wie kriege ich das hin? Sie erkennen, dass sie die Hilfe der anderen benötigen. Einander zu helfen, sich gegenseitig zu unterstützen und sein Handeln darauf auszurichten, ist die gebotene Strategie in dieser Situation. Das dahinter liegende Bedürfnis ist das gemeinsame Gestalten, das gemeinsame Tun. Es weist den Weg ins Miteinander. Und im Miteinander finden die Hungrigen eine passende Lösung. Schließlich werden alle satt. Als Resultat entsteht eine neue Ordnung, die das Miteinander freudig und leicht macht.
Wir brauchen neue Geschichten!
Jetzt erscheint es Ihnen vielleicht durchaus attraktiv, in einem gelingenden Miteinander Lösungen für unsere Fragen zu entwickeln. Doch um diesen Wunsch zu verwirklichen, brauchen wir ein neues Denken, eine neue Kultur des Miteinanders. Nur wie kommen wir dahin, wenn uns von der Wiege an, wenn uns in der Schule, bei der Arbeit, im Verein, wenn uns von allen Medien immer das Heldentum gepredigt wird? Wenn wir für uns selbst das Gewinner-Verlierer-Denken so verinnerlicht haben, dass es ganz selbstverständlich unser Leben prägt?
Wir brauchen neue Geschichten! Geschichten, die uns zeigen, wie wir in einem konstruktiven Miteinander attraktive Lösungen für unsere täglichen Fragen schöpfen können. Geschichten, die leicht und eingängig sind, die irgendwie verschmitzt sind, die eine Freude vermitteln, so dass sie weitererzählt werden und sich mehr und mehr verbreiten.
So können wir die Heldengeschichten überwinden. Nicht im Kampf, sondern indem wir neue Geschichten schaffen. Und ja, die neuen Geschichten müssen richtig gut sein! So gut, dass dagegen die Heldengeschichten verblassen, dass die Menschen anfangen, ihr eigenes Handeln zu überdenken und offen werden für eine konstruktive Gestaltung des Miteinanders.
Mag dieser Aufruf Ihre Fantasie anregen, so dass Ihnen Geschichten einfallen, die den Traum eines gelingenden Miteinanders ein Stückchen mehr in die Wirklichkeit bringen. Hier drei kleine Beispiele aus meiner Schreibwerkstatt:
- Die Varusschlacht – ob es so war?
- Die Wahrheit über die Bielefeldverschwörung
- Bedu Balledu – ein Märchen für kleine und große Kinder
Quellen
[1] Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, Insel Verlag, 2022
[2] Samira El Ouassil & Friedemann Karig: Erzählende Affen, Ullstein Verlag, 2021
[3] Gerhard Reichel: Der Indianer und die Grille, Birgit Reichel Verlag, 2006, S. 24