Xanthippe: Sag mal, wie verarbeiten wir überhaupt all die vielen Einflüsse, die jeden Tag auf uns einströmen, all die Informationen, Urteile, Meinungen und Ansichten, die Erfahrungen und das aufgenommene Wissen? Wie bringen wir das alles zusammen, damit wir uns gut zurechtfinden?
Sokrates: Dafür brauchen wir eine führende Ordnung. Ein Ordnungssystem, das uns im Alltag eine zuverlässige Übersicht, Orientierung und Ausrichtung bietet, und das uns zum konkreten Handeln befähigt.
Xanthippe: Und wie kommen wir zu dieser Ordnung?
Sokrates: Nun, ohne dass wir uns dessen bewusst wären, entwickeln wir sie selbst, während wir erzogen werden und lernen. Wir übernehmen sie zuerst teilweise von den Eltern, und später erschaffen wir sie selbstständig weiter, im Kindergarten, in der Schule, noch später, in der Ausbildung, bei der Arbeit, und außerdem im Umgang mit Partnern, Freunden und Kollegen. Jede Erfahrung und jeder Einfluss im Leben ist Teil dieser Ordnung.
Xanthippe: Das heißt, alles, was wir lernen und erfahren, alles, wozu man uns erzieht und was uns prägt von Kindheit an, ordnen wir in einer ganz individuellen Weise zueinander an?
Sokrates: Ja, wir kombinieren all das mit dem, was und wie wir es erleben, wahrnehmen und interpretieren. Letztlich stellt jeder Mensch seine ganz eigene Ordnung für sich selbst her, auf der Basis dessen, was er oder sie äußerlich und innerlich erlebt und entsprechend der eigenen Fähigkeiten.
Xanthippe: Daher also auch die Schubladen, von denen du sprachst. Es handelt sich nicht um eine einzige, allumfassende Ordnung, sondern um individuelle Ordnungssysteme. Darin bezeichnen die Etiketten an den einzelnen Schüben die unterschiedlichen Kategorien, nach denen wir die Welt einteilen. Und in die einzelnen Schubladen ‚legen‘ wir alles fein säuberlich getrennt hinein: Wissen, Erfahrungen, Meinungen, Wahrnehmungen. Ich nehme an, unsere Denkmuster, emotionalen Strategien und Handlungsgewohnheiten richten sich nach diesem System?
Sokrates: Ganz genau! Dieses Ordnungssystem erheben wir zum Maßstab für unser Denken, Handeln und Fühlen. In einer konkreten Situation fragen wir uns: was ist die passende Kategorie, das passende Etikett, in meinem Ordnungssystem?, und in der zugehörigen Schublade finden wir dann das entsprechende Handwerkzeug, um die Situation zu meistern.
Xanthippe: In der Entwicklungsphase, also Kindheit und Jugend, ist das Ordnungssystem noch sehr flexibel. Da sind wir offen für neue Impulse, interessiert, neugierig und wissensdurstig. Es macht Freude, das Ordnungssystem an die gegebenen Bedingungen immer wieder anzupassen, es zu verbessern, zu erweitern und dadurch immer angemessener für die konkreten Situationen auszurichten.
Sokrates: Ja, so werden wir für das Leben vorbereitet, oder besser gesagt, bereiten wir uns selbst vor. Schließlich verfügen wir über ein umfassendes Schema, und wir können uns gut orientieren in den unterschiedlichsten Lebenssituationen, können die verschiedensten Aufgaben meistern und aktive Rollen und Positionen in der Gesellschaft wahrnehmen und ausüben, sei es beruflich oder privat.
Xanthippe: Dabei perfektionieren wir unsere Navigation immer weiter und werden immer vertrauter mit ihr. Das Einordnen von Situationen und das Handeln nach den zugeordneten Methoden gelingt immer effizienter und erfolgt schließlich ganz automatisch.
Sokrates: Wir nehmen Situationen im Alltag nur noch gewohnheitsmäßig wahr. Routiniert erfassen wir einzelne Merkmale einer Situation und identifizieren sofort die passende Schublade dazu. Unser weiteres Denken und Handeln spult sich dann ganz automatisch nach den in der Lade hinterlegten Methoden und Programmen ab.
Xanthippe: Richtig, und wenn sich unsere innere Navigation bewährt hat, ist meist auch Schluss mit dem genauen Betrachten und Hinterfragen aktueller Situationen. Stattdessen vertrauen wir den Schubladen, und dann wird das Ordnungssystem statisch und starr und verliert seine ursprüngliche Flexibilität.
Sokrates: Dann identifizieren wir uns mit unseren Schubladen, mit den Positionen und Ansichten, die wir entwickelt haben, und verteidigen diese außerdem, da wir ja in der Vergangenheit gute Resultate mit ihnen erzielt haben. Doch betrachten wir dann gar nicht mehr das Spezifische einer Situation. Wir fragen uns nicht mehr, was in der konkreten Situation erforderlich ist. Stattdessen erfassen wir sehr schnell einzelne Aspekte der Situation und weisen sie automatisch einer Schublade zu. Weder hinterfragen wir uns selbst noch die Situation und reagieren nur noch gewohnheitsmäßig. Wir sehen nicht mehr das, was wirklich gerade geschieht, fühlen nicht mehr das, was uns gerade beeinflusst, sondern rufen nur noch ab, was wir darüber denken und wissen, indem wir Ansichten und Meinungen dazu aus den Schubladen ziehen. Unser ganzes Denken, Fühlen und Handeln wird von diesen Schubladen bestimmt. Wir kriegen gar nicht mehr mit, wenn sich beispielsweise etwas verändert hat, sich etwas anders darstellt als bisher oder etwas im Detail zu ganz neuen Schlussfolgerungen führen müsste. Die Situation passt schon längst nicht mehr in die Schublade, aber aus reiner Gewohnheit pressen wir sie immer noch hinein.
Xanthippe: Das erinnert mich an die Geschichte mit dem Braten: Eine junge Ehefrau möchte einen Rinderbraten kochen. Sie teilt den Braten und schmort jede der beiden Hälften in einem eigenen Topf. Der Ehemann fragt erstaunt: ‚Warum teilst du denn den Braten in zwei Hälften und schmorst jede der beiden Hälften in einem eigenen Topf?‘ Sie antwortet: ‚Das macht man doch so. Das habe ich von meiner Mutter gelernt. Die macht das auch immer so.‘ Bei der nächsten Gelegenheit fragt der Mann seine Schwiegermutter, warum sie den Rinderbraten teilt und in zwei Töpfen zubereitet. Sie antwortet: ‚Ja, das macht man doch so. Das habe ich schon immer so gemacht. Das habe ich von meiner Mutter so gelernt.‘ Das junge Ehepaar besucht die Oma, die sich über den Besuch sehr freut. Der junge Ehemann schildert die Situation mit dem Rinderbraten und fragt, warum sie den Braten immer geteilt hätte. Da lacht die Oma und sagt: ‚Habt ihr etwa immer noch keinen großen Topf, in den der Braten ganz hineinpasst?‘
Sokrates: Der Vergleich ist perfekt; genau so ist es! Da werden ewig die alten Gewohnheiten gepflegt, obwohl sie von der Zeit schon längst überholt sind. Wir brauchen erst einen Anstoß von außen, also jemanden, der uns darauf hinweist, dass unsere alte Reaktion für die neue Situation nicht mehr angemessen ist. Wir selbst sind in unserem Schubladensystem erstarrt und merken es gar nicht. UnserSchubladensystem navigiert uns nicht mehr auf dem neuesten Stand, sondern ist veraltet. Es bestimmt jedoch weiter unser Denken, Fühlen und Handeln, und so verhindern die Routinen, dass wir uns aktuell gut zurechtfinden.
Xanthippe: Ich glaube, das ist noch nicht alles: Verstärkt wird dieser Effekt nämlich häufig auch durch die Neigung, das komplexe Ordnungssystem immer weiter aufzuteilen, sodass wir uns am Ende, selbst mit der entstandenen Routine, in der immer differenzierteren Kleinteiligkeit verlieren. Wir sind sozusagen „überorganisiert“, stehen in Situationen wie der Ochs vorm Berge und fragen uns, welche der Tausenden Schubladen denn nun die richtige sei. Wir sind mental überfordert und finden auch beim besten Willen keine Handlungsmöglichkeiten mehr.
Sokrates: Genau das ist die Krux; die Schubladen entwickeln mit der Zeit ein Eigenleben! Sie schaffen eine Scheinrealität und wir vergeuden unsere Energie bei dem Versuch, uns darin noch zurechtzufinden. Wir vertrauen zwar voll auf die Schubladen, finden aber keine passenden Antworten mehr darin. Auf die Idee, die aktuelle Situation auf herkömmliche Weise wieder bewusst zu erforschen, der eigenen Wahrnehmung zu folgen und dementsprechend zu handeln und zu entscheiden, kommen wir merkwürdigerweise nicht. Kein Wunder: Dazu fehlt uns schlicht das nötige Selbstvertrauen! Da wir nicht merken, wie die Schubladen uns vereinnahmen und uns ausbremsen, uns zu Gefangenen machen, die nicht mehr eigenständig denken können und daher handlungsunfähig sind.
Xanthippe: Wie recht du hast, Sokrates! Im Extremfall ergeht es uns wie dem Mann, der sich für sehr aufgeklärt hielt. Er war überzeugt, niemand könne ihm etwas vormachen. Eines Tages verirrte er sich in der Wüste, und nach vielen Tagen endlosen Laufens sah er, vor Hunger und Durst halb wahnsinnig, in der Ferne eine Oase. ‚Lass dich nicht täuschen!‘, sagte er zu sich selbst. ‚Du weißt genau, dass das eine Luftspiegelung ist. Die Oase existiert in Wirklichkeit gar nicht, es ist nur eine Fata Morgana.‘ Er kam näher, doch die Oase verschwand nicht. Im Gegenteil, er sah Dattelpalmen, Gras und Wasser, dessen Quelle zwischen Felsen lag. ‚Sei vorsichtig!‘, warnte er sich selbst. ‚Das ist alles nur eine Ausgeburt deiner Hungerfantasie.‘ Als er das Wasser sprudeln hörte, dachte er bei sich: ‚Aha, ganz typisch! Eine Gehörhalluzination.‘ Am nächsten Tag fanden zwei Beduinen den Mann – tot. ‚Kannst du das verstehen?‘, fragte der eine. ‚Die Datteln wachsen ihm doch beinahe in den Mund? Wie ist das möglich?‘ Der andere antwortete: ‚Er hat nicht daran geglaubt, er war ein moderner Mensch.‘
Sokrates: Ja, das ist der Irrtum, dem wir aufsitzen: Wir sind unseren Schubladen hörig und so überzeugt, die Situation mit unserem Verstand total im Griff zu haben, dass wir die Illusion nicht einmal erahnen: Vor lauter Denken in Schubladen können wir die Realität nicht mehr erkennen, geschweige denn realistisch handeln.
Xanthippe: Mir fällt gerade ein, dass es ja noch den anderen Fall gibt: Wir haben gar keine passende Schublade für die Situation. Dann fehlt uns erst recht die Orientierung, dann sind wir hilflos, ratlos und wissen nicht, was wir tun sollen. Wir resignieren und fühlen uns elend. Häufig weichen wir solchen unangenehmen Situationen aus, werden teilnahmslos, apathisch, deprimiert und fühlen uns wie ein Opfer. Aber, machen wir uns nichts vor, wir fühlen uns zwar unwohl in der Situation, leiden unter ihr, aber in der Regel sind wir gar nicht bereit, die Situation zu verändern.
Sokrates: Gut beobachtet! Eric Berne, ein bekannter US-amerikanischer Psychiater, fand dafür sogar ein recht drastisches Bild: Stell dir vor, ein Mann steht bis zum Hals in einer Jauchegrube. Auf die Frage, was der Mann sich wünsche, antwortet er: ‚Können Sie bitte dafür sorgen, dass niemand Wellen macht?‘ Er will gar nicht heraus aus der Jauchegrube, die Situation verbessern, das Grundübel beseitigen. Auf keinen Fall! Stattdessen möchte er nur, dass sich die Situation für ihn nicht verschlechtert, dass es ‚keine Wellen‘ gibt.
Xanthippe: Diese Geschichte kenne ich. Es ist die pure Angst vor Veränderung, die den Mann lähmt. Statt sich herausholen zu lassen, arrangiert er sich lieber mit der Situation. Ähnlich wie Sisyphus, der von den Göttern damit bestraft wurde, den großen Felsblock den Berg hinaufzurollen, nur um ihn hinten wieder hinabrollen zu sehen und erneut hinaufzubringen – ohne jeden Sinn und Verstand. Er fügte sich und nahm die Aufgabe an, unter Aufbietung all seiner Kräfte, unter größten Mühen und mit schwerstem Leid, und immer, wenn der Stein wieder in das Tal hinunter rollte, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als selbst hinunter zu laufen, um ihn wieder zu ergreifen und sich erneut der Qual zu unterziehen, den Stein auf den Berg zu wälzen.
Sokrates: Wie selbstverständlich fügte sich Sisyphus in sein scheinbar unvermeidliches Schicksal, ohne sich selbst die Frage zu stellen: Was will denn eigentlich ich in dieser Situation? Ein Stück Sisyphus steckt wohl in jedem von uns. Wie häufig lassen wir uns für von außen vorgegebene Ziele bereitwillig und ganz automatisch einspannen und überwinden dafür unseren inneren Schweinehund.
Xanthippe: Zum Beispiel bei der Arbeit.
Sokrates: Ja, schon. Doch bei der Arbeit finde ich die Sache ganz in Ordnung, da lasse ich mich durchaus bereitwillig einspannen und bekomme als Ausgleich ein Gehalt dafür. Immer, wenn ich für mich persönlich einen Sinn in der Tätigkeit sehe, bin ich bereit, sie auszuführen und ein angemessenes Opfer dafür zu bringen. Sisyphus bekam natürlich kein ‚Gehalt‘ für seine Quälerei, und einen höheren Sinn hatte diese Plackerei auch nicht. Er schuftete für nichts.
Xanthippe: Das war die Strafe, die ihm die Götter auferlegten. Doch was ist mit uns? Wären wir wirklich freie Menschen, so würden wir uns doch selbst fragen, ob und wie wir uns auf eine Situation einlassen. Wir würden selbst entscheiden! Stattdessen bleiben wir, von unseren ‚inneren Programmen‘ geprägt, abhängig von unseren Schubladen und handeln ganz automatisch, ohne eigene Führung, und fühlen uns dabei als elende Opfer der Umstände.