Es ist doch verflixt: Jeder Mensch sehnt sich zwar nach guten Gesprächen, aber allzu häufig treten massive Schwierigkeiten auf. Es drängt sich geradezu der Eindruck auf, es sei einfacher, schwere, belastende und irgendwie verkorkste Gespräche zu führen als leichte und gute Gespräche. Dieses Dilemma ist schon alt; Xanthippe und Sokrates wussten bereits im 5./4. Jh. v. Chr. ein Lied davon zu singen. Doch im Himmel, befreit von der Last des irdischen Lebens, konnten sie sich versöhnen.
Die Ausgangssituation
Als Sokrates wieder einmal spätabends heimkam, fand er die Haustür verschlossen und rief nach seiner Ehefrau. Xanthippe öffnete die Tür und überhäufte ihn mit endlosen Schimpftiraden. Nachdem Sokrates die Kanonade eine Weile gleichmütig über sich hatte ergehen lassen, schüttete ihm Xanthippe zu guter Letzt noch einen Kübel Spülwasser über den Kopf. Doch Sokrates erwiderte darauf nichts weiter, und während er sich den Kopf abwischte, sagte er nur im Stillen zu sich: „Ich wusste es ja: Nach so einem Donnerschlag musste ein tüchtiger Regenguss kommen.“
Mit dieser unerschütterlichen Haltung konnte Sokrates es mit seiner zänkischen und keifenden Frau aushalten. Auch wenn seine Freunde Mitleid zeigten oder ihm den guten Rat gaben, etwas zu ändern, blieb Sokrates gelassen, ruhig und ausgeglichen, tat gar nichts und beschwichtigte sogar noch. Der athenische Feldherr Alkibiades rief beispielsweise:
„Die keifende Xanthippe ist unausstehlich!“, worauf Sokrates antwortete:
„Auch du lässt dir doch das Geschrei der Gänse gefallen.“
Sokrates‘ Schüler Antisthenes riet ihm:
„Warum erziehst denn nicht auch du deine Xanthippe, sondern lebst mit einer Frau zusammen, die von allen jetzt Lebenden, ja ich glaube auch von allen, die je gelebt haben und je leben werden, die schwierigste ist?“, worauf Sokrates entgegnete:
„Ein rechter Reiter trainiert ja auch nicht auf den allerbravsten, sondern auf schwer zu bändigenden Pferden; entsprechend übe ich mich an meiner Xanthippe. Denn wenn ich das Zusammenleben mit dieser Xanthippe aushalte, werde ich mit allen anderen Menschen leicht auskommen können.“
Gefragt, ob er die Heirat mit der Xanthippe bereue, antwortete Sokrates mit der Empfehlung:
„Heiratet auf jeden Fall! Kriegt ihr eine gute Frau, dann werdet ihr glücklich. Ist es eine schlechte, dann werdet ihr Philosophen, und auch das ist für einen Mann von Nutzen.“
Dabei suchte er allerdings jede Gelegenheit, dem häuslichen Gewitter zu entkommen, indem er sich mit seinen Freunden zu philosophischen Gesprächen traf oder in das Athener Stadtleben eintauchte, über Märkte, Plätze und Sportplätze schlenderte und überall mit den Leuten schwatzte. Er war ein rechter Müßiggänger, und auch das wurmte Xanthippe, die für die Erziehung der Kinder zu sorgen hatte, für den Haushalt, die Einkäufe und dafür, dass etwas Ordentliches zu Essen auf den Tisch kam. Dabei hätte sie wohl gerne die Unterstützung ihres Gatten gehabt, aber der führte stattdessen einen Lebenswandel als Philosoph, ohne einem bürgerlichen Beruf nachzugehen.
Bei seinen Philosophieschülern war Sokrates hoch geschätzt. In Gesprächen konfrontierte er sie immer wieder durch provozierende und durchaus unverschämte Fragen; so zeigte er ihnen die Grenzen und die Unzulänglichkeit ihrer eigenen Vorstellungen und Ansichten, entlarvte ihre Illusionen, um der verborgenen Wahrheit näher zu kommen. Die Schüler mochten seine Methode, wogegen sie dem Athener Senat eher suspekt blieb. Sokrates wurde angeklagt, die Moral der Jugend zu verderben, doch in seiner Verteidigungsrede sprach er zu den Richtern wie zu seinen Schülern. Er deckte nicht nur auf, dass ihre Anklage gegen ihn unzutreffend war, sondern dass ihre Vorstellungen und Meinungen überhaupt unzureichend waren. Natürlich hat niemand es gerne, so öffentlich bloßgestellt zu werden, auch die Athener Richter nicht. Sie verurteilten Sokrates zum Tode, und der leerte mit gelassener Würde den Schierlingsbecher.
Das Versöhnungsgespräch
Xanthippe und Sokrates leben zwar schon lange glücklich im Himmel, aber die meisten Jahre jeder für sich allein. Zu viele schlechte Erinnerungen verbanden die beiden mit ihrem gemeinsamen Leben auf der Erde, und all die Nachreden der Philologen, Philosophen und Historiker, die bis zum heutigen Tag wirken, verbesserten ihre Lage auch nicht gerade. Irgendwann hegten beide, jeder auf seine Art, den Wunsch, sich zu versöhnen:
Sokrates: Nun bin ich ein hoch geachteter Philosoph, und meine Art der Gesprächsführung ist richtungsweisend bis zum heutigen Tage. Die Welt dankt es mir, und ich werde verehrt. Nur, ein ordentliches Gespräch mit Xanthippe ist mir nie gelungen. Während ich mit ihr im Streit lag, sprach ich mit meinen Schülern über die großen Dinge, über Philosophie und Politik. Wie gerne hätte ich auch zu Hause, mit meiner Frau, Gespräche darüber geführt und unser gemeinsames Leben zusammen mit ihr gestaltet. Stattdessen hat sie es für mich zur Hölle gemacht, und ich musste immer in die Stadt hinaus, um in den Genuss guter Gespräche zu kommen. Ich war ein Getriebener, damals, aber vielleicht sollte ich jetzt doch einmal das Gespräch mit ihr suchen. Vielleicht können wir hier, im Himmel, befreit von all den weltlichen Zwängen, tatsächlich miteinander reden …
Xanthippe: Sokrates führte so gerne geistreiche Gespräche mit seinen Schülern. Mit den Athener Bürgern schwatzte er voller Freude über dies und das und amüsierte sich. Es ist so schade, dass er sich ausgerechnet mit mir nie gut unterhalten hat. Für meine Belange im Haus und für die Kinder hat er sich nie interessiert, und das hat mich immer sehr geärgert. Wenn ich mich beklagte, kam keine Antwort von ihm. Stattdessen ging er gleich wieder fort. Ich hätte mich so gerne einmal richtig ausgetauscht mit ihm. Vielleicht wäre jetzt, wo wir befreit sind von weltlichen Zwängen, eine bessere Gelegenheit dazu? …
In den beiden entwickelten sich die Sehnsüchte – die sie in ihrem irdischen Leben bereits fühlten, denen sie aber niemals folgten – über die vielen Jahre im Himmel weiter. Sie wurden sogar intensiver, doch aus alter Gewohnheit folgten sie ihnen weiterhin nicht – bis sie sich eines Tages auf derselben Wolke trafen und einander nicht mehr ausweichen konnten.
Sokrates: Hallo, Xanthippe! Wie geht es dir? Wir haben uns ja so lange nicht gesehen.
Xanthippe: Ja, es ist schon einige Hundert Jahre her. Hast du etwas Zeit? Lass uns in der Taverne, da vorne an der Ecke, einen Kaffee trinken.
Sokrates: Sehr gerne! Das haben wir in unserem irdischen Leben nie gemacht!
Xanthippe: Stimmt, wir haben nie etwas wirklich nur für uns gemacht. Ich war an Haus und Kinder gebunden, und du hast dich in der Stadt herumgetrieben.
Sokrates: Oh, ich hätte schon sehr gerne mit dir geredet und überlegt, wie wir unser gemeinsames Leben hätten schöner machen können.
Xanthippe: Ach so, und anstatt mit mir zu sprechen, bist du immer zu deinen Freunden gerannt?
Sokrates: Na ja, freiwillig wohl nicht, denn meist fühlte ich mich von dir vertrieben.
Xanthippe: Vertrieben? Oder wolltest du dich nur nicht in die Hausarbeit einspannen lassen oder um die Kinder kümmern?
Sokrates: Das blieb alles an dir hängen, nicht wahr?
Xanthippe: Richtig! Während du deinen schöngeistigen Fragen nachgingst. Für die wirklich wichtigen Dinge im Leben fehlte dir jeder Sinn.
Sokrates: Schon, aber Philosophie bereichert nun mal das Leben.
Xanthippe: Mag sein, doch ich frage mich, ob es nicht zu den wesentlichen Aufgaben der Philosophie gehört, vor allem den Alltag sinnvoll zu bestreiten. Wer in die geistigen Sphären entflieht, um den täglichen Problemen zu entkommen, beweist nur, dass sein Philosophieren wirkungslos bleibt. Seine Gedanken blähen sich auf wie Seifenblasen und zerplatzen irgendwann.
Sokrates: Weißt du, ich möchte dir etwas vorschlagen: Wie wäre es, wenn wir jetzt damit beginnen, es besser zu machen? Wir könnten konkrete Fragen des Alltags philosophisch bereichern.
Xanthippe: Klingt gut! Aber, wo fangen wir da an?
Sokrates: Was für eine Frage! Bei den Gesprächen natürlich! Gespräche fördern ja gerade das Miteinander.
Xanthippe: Super! Lass uns bei unseren Gesprächen anfangen! Da habe ich großen Bedarf.
Sokrates: Wir könnten gemeinsam eine Gesprächsmethode entwickeln, mit der sich für die täglichen Fragestellungen im Miteinander gute Resultate erzielen lassen.
Xanthippe: Das klingt zwar sehr theoretisch, aber warum nicht? Dann haben wir ein gemeinsames Ziel, und außerdem scheint es mir eine wirklich lohnende Aufgabe zu sein, zumal die Menschen bis heute nicht besonders glücklich wirken, wenn sie miteinander reden.
Sokrates: So, wie wir damals. Lass uns deshalb bei uns beiden beginnen! Bevor wir daran denken, den Menschen auf der Erde zu helfen, sollten wir erst selbst erfolgreich sein.
Xanthippe: Prima Idee! Und dann, wenn es uns gut gelingt, erweitern wir den Kreis und schlagen die Methode auch den Menschen vor. Wir haben hier, im Himmel, die idealen Voraussetzungen dafür, verglichen mit der streitgeschwängerten und konfliktgetränkten Atmosphäre da unten …
Sokrates: Wir haben viel zu tun!
Xanthippe: Auf geht’s!
Der Aufruf
Xanthippe und Sokrates sitzen auf ihrer Wolke im Himmel. Längst haben sich beide miteinander versöhnt und erinnern sich amüsiert an die Streitigkeiten von damals. Doch wenn sie heute auf die Erde blicken, stellen sie fest: Es hat sich nichts geändert! Immer noch zanken und streiten die Menschen. Sokrates packt die Wut, und er fasst einen Entschluss:
Sokrates: Hier muss etwas geschehen! Xanthippe, wir müssen den Menschen zeigen, wie sie wirklich gute Gespräche führen können und ihr Miteinander besser in den Griff kriegen.
Xanthippe: Ja, das denke ich auch. Es ist an der Zeit!
Sokrates: Und wir beide, wir können das. Wir haben es zu Lebzeiten zwar auch nicht hingekriegt, aber seitdem ist viel Zeit vergangen. Wir haben viel dazugelernt und viele Erfahrungen gesammelt.
Xanthippe: Lass uns den Menschen auf der Erde sagen, wie wir es geschafft haben, uns zu versöhnen.
Sokrates: Und natürlich, wie wir seitdem miteinander reden.
Xanthippe: Ob sie sich der Sache wohl annehmen werden?
Sokrates: Tja, das weiß ich nicht, aber einen Versuch ist es wert.
Xanthippe: Ganz bestimmt. Ich überlege nur, wie wir es anstellen, die Menschen zu belehren.
Sokrates: Man kann eigentlich niemanden etwas lehren, sondern andere nur zum Nachdenken bringen, richtig?
Xanthippe: Richtig! Aber das scheint mir ein schwerer Weg.
Sokrates: Lass es uns wagen! Es gibt nichts zu verlieren, oder?
Xanthippe: Genau! Lass es uns wagen!