Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Genesis 1, 1-2.
In der Folge gestaltete Gott die Erde nach seiner Vorstellung. Er machte Licht, schuf Meer, Land und Berge, brachte das Leben auf die Erde: die Pflanzen, die Tiere und zu guter Letzt hat er uns Menschen geschaffen. Dann sah er, dass es gut war. Er hatte das Tohuwabohu auf der Erde geordnet und in eine Struktur gebracht.
So ist – nach der Genesis – die Ordnung auf dieser Erde entstanden. Dabei drängt sich die Frage auf: Wie können wir Menschen im Miteinander selbst eine Ordnung schaffen, die uns Orientierung und Halt gibt? Dafür haben wir uns zuerst die Frage zu stellen: Was ist überhaupt Ordnung? Lassen Sie uns zur Beantwortung einen kleinen Ausflug in die Physik unternehmen.
In der Physik wird zwischen chaotischer und geordneter Bewegung unterschieden. Betrachten wir die folgende Abbildung, in der zwei Teilchenbahnen dargestellt sind.
Die eine Bewegung beschreibt ein regelmäßiges Muster. Das andere Bild zeigt ein Durcheinander. Das Wirrwarr nennen die Physiker chaotisch, die Bahn mit dem gleichmäßigen Muster geordnet.
Doch warum ist die eine Bahn geordnet, die andere ungeordnet? Der springende Punkt ist, dass die geordnete Bewegung durch eine übergeordnete Gesetzmäßigkeit geprägt ist, die die Teilchenbahn in jedem Punkt ausrichtet und die sich in dem regelmäßigen Muster manifestiert. Dabei resultiert die Gesetzmäßigkeit aus einer Erhaltungsgröße. Also einer Größe, die sich entlang der Bahn nicht ändert, die konstant ist. Diese Größe selbst können wir zwar nicht sehen, doch sie findet ihren Ausdruck in dem geordneten Bahnverlauf. Und ändern wir die Eigenschaften der Bahn ein wenig – also die Startbedingungen, ihre Geschwindigkeit und Ausgangsposition – dann ändern wir damit auch den Wert der Erhaltungsgröße ein wenig, und die Bewegung beschreibt ein etwas verändertes, aber doch weiterhin ein regelmäßiges Muster. Die Physiker sagen: die Bewegung ist stabil.
Und bei der chaotischen Bewegung? Da fehlt diese übergeordnete Gesetzmäßigkeit, da gibt es keine Erhaltungsgröße, die den Verlauf der Bahn bestimmt. Stattdessen beschreibt die Bahn ein wirres Durcheinander, das jede Ordnung vermissen lässt. Und ändern wir bei dieser chaotischen Bewegung ein wenig die Startbedingungen, dann zeigt der Bahnverlauf ein völlig anderes Bild. Die Bewegung wird instabil genannt.
Zusammengefasst können wir sagen: Ist die Bewegung eines Teilchens – also etwa eines Planeten, der um die Sonne kreist – durch eine Erhaltungsgröße bestimmt, dann resultiert daraus ein geordnetes Bild für die Bewegung. Gibt es für die Teilchenbahn keine zugrundeliegende Erhaltungsgröße, dann herrscht Chaos.
Und wie können wir dieses Bild der Ordnung auf unser menschliches Miteinander übertragen? Die stabile und instabile Bahn erinnern an das Gleichnis aus der Bergpredigt, wo Jesus von dem Haus spricht, das auf Stein gebaut ist und stabil den Unwettern trotzt und im Gegensatz dazu von dem Haus, das auf Sand gebaut ist, und das bei dem erst besten Platzregen zusammenfällt. Doch was gibt uns im Alltag die nötige Stabilität? Schauen wir in die Natur. Die Tiere machen es uns vor mit ihrer Schwarmintelligenz.
Dort treffen wir auf emergentes Verhalten, also ein Verhalten, bei dem durch das Zusammenspiel einer Schar von einzelnen Elementen etwas Gemeinsames, etwas Übergeordnetes entsteht. Sei es die äußere Form eines Fisch- oder Vogelschwarms, sei es das gemeinsame Jagdverhalten in einem Löwenrudel, oder sei es die Struktur einer Schneeflocke durch die gefrorenen, zusammenhaftenden Wassertropfen. In all den Beispielen sind die entstehenden Strukturen nicht direkt in den einzelnen Elementen enthalten, sondern sie resultieren aus dem Zusammenwirken der Elemente.
Betrachten wir ein konkretes Beispiel, eine Schar fliegender Gänse. Die formieren sich in ihrem Flug immer zu einem V. Dieses Verhalten erfolgt bei den Gänsen ganz instinktiv. Jeweils eine Gans fliegt voran und die anderen folgen schräg versetzt in ihrem Windschatten. Und da das Fliegen an der Spitze anstrengend ist, wechseln sich die Gänse in ihren Positionen ab.
Das Fliegen im gegenseitigen Windschatten ist vielkräftesparender, als wenn jede Gans für sich alleine losfliegt. Und haben die Gänse das gemeinsame Ziel, in den Süden zu fliegen, so können sie dies mit der V-Formation gut erreichen.
Doch auch bei uns Menschen treffen wir auf emergentes Verhalten. Etwa auf der Autobahn. Der Verkehr fließt dahin: Mal geht es zäh voran, dann stockt es und wenig später können wir wieder zügig fahren. Dabei erkennen wir oft gar nicht die Ursache. Vielleicht hatte ein LKW Fahrer auf die Bremse getreten und dadurch einen Rückstau ausgelöst. Egal. Als Autofahrer passen wir uns einfach dem Verkehrsfluss an. Wir sind Teil des Ganzen. Der Verkehr zieht in Wellen dahin, mal geht es flott voran, mal langsamer. Und wir sind Teil dieser Welle, fahren mit ihr mit und kommen ans Ziel. Und versuchen wir aus der Welle auszubrechen, starten riskante Überholmanöver, so steigt einerseits unser Blutdruck und außerdem erhöht sich die Unfallgefahr – und wenn dann wirklich ein Unfall passiert, dann kommt die gesamte Welle erst einmal zum Stehen. In diesem Beispiel zeigt sich in der Wellenbewegung die übergeordnete Ordnung. Es entsteht aus dem Zusammenwirken der einzelnen Autofahrer. Dabei ergibt sich die Welle für die Fahrer unbewusst, denn sie haben selbst keinen direkt steuernden Einfluss darauf.
Doch wie können wir Menschen emergentes Verhalten ganz bewusst herbeiführen? Betrachten wir nochmal die geordnete Teilchenbewegung. Da resultiert die Ordnung aus einer Erhaltungsgröße entlang der Bahn. Also einer Größe, die sich entlang der Bahn nicht ändert, die Bestand hat und die der Bewegung eine übergeordnete Orientierung und Ausrichtung bietet. Etwas entsprechendes ist der geschöpfte Wert in einer Situation. Wenn wir im Miteinander für eine konkrete Situation oder Frage einen Wert oder eine Lösung schöpfen, etwas Attraktives, Stabiles, Beständiges und Verlässliches, dann können wir danach unser Handeln im Miteinander bewusst ausrichten. Das geschieht auch bei dem Gänseflug. Die Vögel richten sich als V aus. Das ist die Ordnung, die sie durch ihr Verhalten schaffen. Der zugrunde liegende Wert ist der Flug im gegenseitigen Windschatten, mit dem die Gänse das Ziel kräftesparend erreichen. Doch die Gänse machen das instinktiv. Sie fliegen nicht bewusst im Windschatten, ihnen ist der Wert nicht gegenwärtig. Aber wir Menschen haben die großartige Möglichkeit, bewusst einen Wert für eine Situation zu schöpfen und ihn zu einem Ausdruck zu bringen. Wir können selbst eine tragende Ordnung schaffen!
Betrachten wir ein konkretes Beispiel: ein Orchester. Soll ein Musikstück aufgeführt werden, so liest der Dirigent vorab die Partitur und stellt sich die Frage, wie er das Musikstück interpretieren will, wie er das Zusammenspiel der Musiker ausrichten und das Stück gestalten möchte. Dabei fördert und fordert der Dirigent jeden einzelnen Musiker nach seinen ganz individuellen Möglichkeiten. Und natürlich muss jeder der Musiker seinen Part beherrschen und sich passend in das Zusammenspiel einbringen. Ist alles gut aufeinander abgestimmt, das Stück, der Dirigent und die einzelnen Musiker, dann entsteht eine Ordnung, dann strahlt das Werk nach außen, der Funke springt über, die Aufführung wird zu einer Freude – sowohl für die Orchestermitglieder als auch für das Publikum, das mitgeht, aufsteht und begeistert applaudiert. Neben dem Dirigenten und den Orchestermusikern gibt es noch eine weitere zentrale Person, die jedoch meistens im Hintergrund bleibt: den Komponisten, der die Idee für das Musikstück hatte und in einer Partitur auf Papier gebracht hat. Der Komponist schafft und formt das Musikstück, er gibt die Ordnung vor, schreibt vor, welche Musiker wie zusammenspielen. Orchester arbeiten mit dieser Partitur und bringen sie zur Aufführung.
Das zu spielende Musikstück stellt in diesem Fall den Wert da, der alle Beteiligte ausrichtet: der Komponist schöpft den Wert, der Dirigent und die einzelnen Musiker bringen den Wert zur Aufführung und das Publikum erfreut sich über den Wert. Dabei ist das Vorgehen getragen von eigenständigen Personen, von Künstlern, die ihre unterschiedlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten freiwillig in ein kooperatives Miteinander einbringen, um dem Wert – also dem Musikstück – einen Ausdruck zu verleihen.
Zusammengefasst können wir sagen: Ein bewusst geschöpfter Wert richtet uns und unser Miteinander aus und schafft eine verbindende Ordnung.
Wir Menschen sehnen uns nach Ordnung. Dessen sind wir uns oftmals nicht bewusst, doch es ist die Ordnung, die unserem Denken, unserem Fühlen und Handeln, unserem gesamten Sein einen Sinn verleiht. Die Ordnung ist beständig, verlässlich, sie gilt heute und morgen immer noch. Sie gibt uns eine Struktur, eine Orientierung und einen Inhalt im Leben. Und nicht nur für uns alleine. Auch im Miteinander braucht es die Ordnung, um konstruktiv zusammen zu wirken, um sich aufeinander verlassen zu können und um sich gemeinsam nach einem verbindenden Ziel ausrichten zu können. Und auch in unserer Umgebung braucht es die Ordnung, denn sie bietet uns Sicherheit, gibt uns etwas Vertrautes, schafft Zuverlässigkeit .