Sokrates: Xanthippe, was ist eigentlich ein ‚gutes Gespräch‘?
Xanthippe: Ich denke, es ist gut, wenn es ein wohlwollendes Miteinander gibt, wenn es aufbauend und förderlich verläuft, sich als nützlich erweist. Man kann sagen, ein ‚gutes Gespräch‘ ist konstruktiv. Außerdem gibt es jedem Gesprächspartner Raum, seine Ansicht oder sein Anliegen umfassend zu äußern, ohne unterbrochen oder gar attackiert zu werden von voreiligen Bewertungen. Als Resultat entwickelt sich aus den einzelnen Beiträgen eine gemeinsame Sicht auf die Situation, um die es geht. Die einzelnen Beiträge fügen sich sozusagen wie Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammen.
Sokrates: Hm, gut und schön, aber ehrlich gesagt, klingt mir das ein wenig zu förmlich. Es erinnert mich an den alten Knigge: Lass alle Leute schön ausreden! Unterbrich niemanden, sondern höre gut zu! Teile ausführlich mit, was du denkst …! Wenn man die Regeln alle schön einhält, erscheint das tolle Resultat ganz automatisch: eine für alle passende, vom gemeinsamen Konsens getragene, neue Ausrichtung. Stecken wir da nicht einen zu großen Teil der Aufmerksamkeit in die Einhaltung der Regeln? Mir scheint auch, das Gespräch würde dann eher unauthentisch, wie eine Simulation.
Xanthippe: Ach, das glaube ich nicht. Die Regeln müssen uns nur erst so richtig in Fleisch und Blut übergehen, sodass wir sie ganz selbstverständlich einhalten, ohne lange darüber nachzudenken. Die Regeln sind ja nur der äußere Rahmen.
Sokrates: Trotzdem, ich bin mir nicht sicher. Braucht es denn nur den passenden Rahmen, die passenden äußeren Bedingungen, und siehe da, schon kommt ein gutes Gespräch zustande? Wäre das nicht schnell eine Art goldener Käfig? Es wird viel Aufwand für den Käfig betrieben, aber dann hockt doch bloß ein trauriger Vogel drin. Wie der Vogel lieber frei fliegen möchte, wollen wir vielleicht auch lieber flexiblen Regeln folgen?
Xanthippe: Aber was bedeutet das für Gespräche?
Sokrates: Ich denke zwar, dass wir bestimmte Rahmenbedingungen brauchen, damit das Miteinander funktioniert, denn ohne Rahmen herrscht Chaos und Anarchie. Aber ich stelle mir auch die Frage, wie der Rahmen hergestellt wird und wie er uns beeinflusst. Ob wir Sklaven des äußeren Rahmens sind, so wie vorher Sklaven unserer Schubladen, oder ob sich der passende Rahmen nicht situationsbezogen und aktuell miteinander schaffen lässt, indem wir zuerst darüber konkret sprechen.
Xanthippe: Du meinst, wie bei der roten Fußgängerampel mitten in der Nacht? Von den Regeln her müssen wir stehenbleiben und brav warten, bis die Ampel auf Grün schaltet, obwohl kein Auto auf der Straße fährt. Wir können uns aber auch bewusst über die Straßenverkehrsordnung hinwegsetzen und bei Rot über die Straße gehen. Es scheint mir logisch, tagsüber in jedem Fall bei Rot zu warten, weil es mich schützt, wenn viel Verkehr ist. Nachts nicht zu warten, weil weit und breit kein Auto zu sehen ist, fühlt sich genauso logisch an. Es wäre fast lächerlich, als könnte man gar nicht mehr selbstständig denken und eigenverantwortlich entscheiden.
Sokrates: Genau das meine ich! Es geht darum, die Regeln anzupassen oder mehr oder weniger zu lockern, je nach tatsächlicher Gesprächslage. Zuallererst sollten wir mit unseren Gesprächspartnern aktiv ein konkretes Thema aufgreifen …
Xanthippe: Halt! Stopp! Moment mal, wenn nun das Thema das Gespräch anführt, werden doch bei allen sofort wieder die inneren Schubladen aktiviert und die Bilder, Positionen und Emotionen dazu ausgetauscht. Dann haben wir doch sofort wieder eine Debatte, oder nicht?
Sokrates: Nein, das denke ich nicht. Stell dir vor, alle Gesprächspartner sind zunächst einmal bereit, sich jenseits ihrer gewohnten Navigation an dem Gespräch zu beteiligen – wie wir es vorhin schon festgestellt haben. Dann kann ein gemeinsam festgelegter Betrachtungsaspekt dabei helfen, aktiv zu werden, statt die Schubladen zu befragen.
Xanthippe: Oh, na klar! Aber wie überwinden wir denn die starke Neigung, unsere Schubladen doch zu öffnen? Kann das allein ein festgelegtes Thema schaffen? Natürlich brauchen wir so etwas wie einen führenden Maßstab, nach dem wir uns ausrichten. Doch, wie finden wir den?
Sokrates: Wir könnten konkret formulieren, über welche Situation wir überhaupt sprechen. Wir könnten uns fragen: Wo drückt der Schuh? So entwickeln wir ein eigenes Interesse an der Situation und sind aufgefordert, diese selbst zu erfassen, zu hinterfragen, zu ergründen und uns selbst ein eigenes Bild dazu zu machen. Wir orientieren uns ganz konkret an der Situation und geben uns nicht mit automatisierten Vorstellungen zufrieden. Wir richten uns gemeinsamauf den festgelegten Aspekt aus, während die Situation in den Hintergrund tritt und mit ihr die ausgelösten Gefühle, voreilige Meinungen und so weiter.
Xanthippe: Das kann ich mir gut vorstellen: Unser Ordnungssystem besteht zwar weiterhin, doch es wird nur optional und flexibel genutzt. Wir nehmen durch den gewählten Betrachtungsaspekt oder die aufgeworfene Betrachtungsfrage eine höhere Perspektive ein, sodass wir eine Distanz schaffen zur Situation. Aus dieser Distanz können wir viel besser und unbetroffener herausfinden, was unsere Situation kennzeichnet und von uns fordert. Es wäre dann interessant, wenn wir anschließend unsere neu gewonnenen Erkenntnisse mit den Inhalten unserer Schubladen verglichen. Sobald wir auch unser Ordnungssystem mit etwas mehr Abstand betrachten und befragen, stellen wir die natürliche Ordnung wieder her: Wir sind die Schöpfer, Nutzer und Korrektoren unseres Ordnungssystems. Was wir in Schubladen legen, ist zwar wertvoll, aber es darf uns nicht zu Marionetten machen.