Betrachte den Menschen nicht nach dem, was er ist,
sondern nach dem, was er werden kann.
Johann Wolfgang Goethe
Schön gesagt. Doch lieber Herr Goethe, wie soll das denn funktionieren? Wie können wir erkennen, was wir werden können? Und wie können wir das verwirklichen? In diesem Artikel wage ich mich an das Unterfangen, die Fragen aufzugreifen und zu einer konkreten Antwort zu bringen.
Was macht uns Menschen aus?
Fragen wir uns zuerst: Was macht uns Menschen aus? Was prägt uns? Was ist das Wesentliche unseres Menschseins?
Jetzt mögen Sie sagen: das ist doch ganz einfach: der Partner, die Kinder, die Familie, die Freunde, der Beruf, die Hobbies, die Konfession, die Wohnung, das Auto, der Urlaub, der Verein, das leckere Essen, der Wein und so weiter und so fort.
Ja sicherlich, das sind alles Dinge, die unser Leben attraktiv und lebenswert machen. Doch sind die Dinge, mit denen wir uns umgeben, das Wesentliche unseres Menschseins? Macht das, was wir tun, allein unser Leben aus?
Dann richten wir unser Leben nach den Dingen aus und diese prägen unser Denken, unser Fühlen und Wollen. Aber allzu leicht kommen wir uns dabei wie eine Marionette vor, wenn unser Verhalten allein durch die äußeren Dinge geführt und bestimmt wird, wenn wir nur noch auf die äußeren Umstände reagieren. In der Folge fühlen wir uns oft innerlich leer, wie ausgezehrt.
Fragen wir uns stattdessen: Wie können wir das erreichen, was wir wollen? Wie können wir uns in die täglichen Aufgaben so einbringen, dass es für uns passt und dass dabei gute Resultate erzielt werden? Es ist die Frage nach unseren prägenden Persönlichkeitseigenschaften, nach dem was uns in unserem inneren Wesen, in unserem Menschsein ausmacht. Dabei sind unsere prägenden Persönlichkeitseigenschaften direkt mit dem Bedürfnis verbunden, diese auch ausleben zu können. Diese Sehnsucht entspringt unserer tiefen inneren Natur, dem was uns als Person wirklich ausmacht.
Doch was sind unsere Persönlichkeitseigenschaften? Ich möchte 9 Grundeigenschaften unterscheiden, die wir auch als elementare Wesenheiten bezeichnen können:
Diese Wesen sind universell. Sie bilden die Grundlage alles Lebendigen. So finden die Wesen in einer ganz individuellen Ausprägung bei jedem einzelnen Menschen. Doch nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei den Tieren, bei den Pflanzen, ja bei allen Lebewesen.
Der Wesenskern
Dabei zeichnet jedes Lebewesen eine dominierende Eigenschaft aus, die als Wesenskern in dem Lebewesen verkörpert ist und zu einem Ausdruck drängt. Für diesen Zweck bindet das Lebewesen die anderen Wesen unterstützend mit ein, gemäß der spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten. So prägt der Wesenskern maßgeblich Verhalten, Charakter und auch das Aussehen der Lebewesen. Er bestimmt ihr Sein. Der Kern ist das universelle, gestaltende Grundmuster hinter unserem Denken, Fühlen und Wollen.
Wir Menschen haben die großartige Fähigkeit, die Wesen erkennen zu können. Zugegeben, das Erkennen des Wesenskerns ist bei Menschen durchaus eine schwere Sache. Dagegen sind die Wesenskerne bei den Tieren relativ leicht auszumachen. Denn Tiere bringen ihr entsprechendes Wesen durch ihren Instinkt direkt und unverfälscht zu einem Ausdruck. Betrachten wir ein konkretes Beispiel, einen Löwen:
Ein Löwe gilt als Inbegriff der Würde. Diese strahlt er in seinem majestätischen Wesen aus. Er verkörpert Ruhe und Erhabenheit, verbindet Gelassenheit mit Stolz, zeigt Entschiedenheit, ist aufgerichtet, kraftvoll, mutig, willens- und durchsetzungsstark und gleichzeitig eigenständig und frei. Diese Eigenschaften machen das Wesen des Löwen aus. Doch fragen wir weiter: Was ist die prägende Grundeigenschaft des Löwen? Es ist die Herrlichkeit seines Seins, der Stolz mit dem er das „Ich bin!“ souverän und würdevoll verkörpert und ausstrahlt. Die Darstellung seines Selbst ist bei dem Löwen das dominierende Wesen, sein Wesenskern, seine tiefe Sehnsucht, die ihn in seiner ganzen Erscheinung prägt. Das entsprechende Wesen ist die Eigenständigkeit, die der Löwe in einer hohen Perfektion verkörpert. Dabei ist sich der Löwe seines Wesens nicht bewusst. Er bringt die Eigenständigkeit ganz instinktiv in seinem Wesen zum Ausdruck.
Haben wir das Wesen des Löwen als die Eigenständigkeit ermittelt, so „sehen“ wir die Eigenschaften der Eigenständigkeit auch bei anderen Tieren – etwa bei einem Hirschen oder einem Steinbock. Die verschiedenen Tiere bringen die Eigenständigkeit auf ihre ganz spezifische Art zum Ausdruck. Doch wir können den Bogen noch weiterspannen. So können wir die Eigenschaften der Eigenständigkeit auch in einer verschneiten Berglandschaft erkennen, bei einem würdevollen Menschen oder in unseren ganz alltäglichen Situationen.
Auf die beschriebene Art und Weise können wir zu den verschiedenen Wesen Vorstellungsbilder entwickeln. Mit den Bildern werden uns die abstrakten Begrifflichkeiten der Wesen vertraut: wir bekommen eine Vorstellung von ihren Eigenschaften, die Wesen werden greifbar und wir können uns fragen: Was ist mein prägendes Wesen? So können wir ein erstes Bild von unserem Wesenskern entwickeln. Also schauen Sie sich das folgende Bild an, identifizieren Sie die Wesenskerne der einzelnen Tiere und kommen Sie dabei Ihrem eigenen Wesenskern auf die Schliche, Ihrer dominierenden Persönlichkeitseigenschaft:
- Orientierung: Die Präriehunde sind charakterisiert durch ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit, mit der sie die Umgebung wahrnehmen und sich eine Orientierung verschaffen.
- Wesentlichkeit: Der Dachs ergründet eine Situation, er dringt zum Wesen vor.
- Transzendenz: Der Adler zieht am Himmel seine Kreise. Er ist frei und unabhängig und hat dabei eine gute Übersicht über die Situation.
- Eigenständigkeit: Der Löwe ist geprägt durch seine Eigenständigkeit, die er mit einer selbstverständlichen Würde zu einem Ausdruck bringt.
- Klarheit: Den Uhu kennzeichnen die großen Augen, die es ihm ermöglichen, auch des Nachts gut zu sehen und erfolgreich zu jagen. Er bringt Klarheit in das Dunkel.
- Verbundenheit: Die Affen zeichnet ihre Verbundenheit, das soziale Miteinander aus, in dem sie sich gegenseitig lausen. (Die Präriehunde sind auch in einer Gruppe, doch wichtiger als die Gestaltung des Miteinanders, ist ihnen das Wahrnehmen der Situation.)
- Neuausrichtung: Ausgerichtet ist der Flug der Gänse.
- Aktivität: Das Pferd steckt voller Energie und Tatendrang, den es aktiv zu einem Ausdruck bringt.
- Ordnung: Der Kolibri fliegt von Blüte zu Blüte, um den Nektar zu schlürfen und sie dabei zu bestäuben. Er schafft den Ausgleich und die verbindende Ordnung zwischen all den anderen Wesen.
Schön und gut, jetzt habe wir den Wesenskern bei einigen Tieren herausgestellt. Doch wie ist das bei uns Menschen? Wie können wir unseren Wesenskern aufgreifen und in den täglichen Situationen zu einem Ausdruck bringen?
Das Wesentliche bei uns Menschen
Unser menschliches Verhalten ist viel weniger durch instinktive Programme geprägt als das der Tiere. Stattdessen haben wir unser Bewusstsein. Es bietet uns die großartige Möglichkeit, die verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften gezielt aufzugreifen und für unseren Zweck zu einem Ausdruck zu bringen. Allerdings haben wir unsere Persönlichkeitseigenschaften nicht von Geburt an. Wir haben sie im Laufe der Zeit zu entwickeln. Wir haben sie zu lernen, indem wir uns die Eigenschaften bewusst machen und sie in den täglichen Situationen immer weiter klären und konkretisieren und sie immer freier zu einem Ausdruck bringen.
Auch wir Menschen haben einen Wesenskern. Doch im Gegensatz zu den Tieren einer Art, können verschiede Menschen unterschiedliche Wesenskerne haben: dem einen liegt es vielleicht besonders, Klarheit zu schaffen, der andere kann gut Entscheidungen herbeiführen und diese würdevoll vertreten und der nächste lebt auf, wenn er etwas machen, etwas tun kann.
Doch unser Wesenskern kommt oftmals gar nicht zu einem freien Ausdruck. Er ist überschattet durch unser Wissen, unsere Annahmen, Vorstellungen und Meinungen sowie durch die ganzen Anforderungen, die von außen an uns gestellt werden. Dabei empfinden wir unseren Wesenskern leicht als etwas Selbstverständliches, das keinerlei Beachtung verdient, oder auch durchaus als etwas Störendes, als eine Art triebhaften Zwang, der unserer gestellten Aufgabe im Wege steht. In beiden Fällen treten wir unseren Kern regelrecht mit Füßen, unterdrücken ihn und richten uns stattdessen danach aus, was die Situation, das Umfeld und unsere eigenen Vorstellungen und Meinungen ‚erfordern‘. So sind wir uns unseres Wesenskerns, unseres inneren Wertes nicht wirklich bewusst.
Gleichzeitig liegen unsere inneren Wesen oft in einem Wettstreit. Uns fehlt die führende Ordnung, mit der wir unsere Umwelt wahrnehmen und unser Handeln ausrichten können. So wissen wir oft gar nicht, was in einer Situation angebracht ist: Ist etwas zu klären, zu machen, zu entscheiden, sind Ziele festzulegen oder ist etwas genauer zu erfassen…. Unsere inneren Wesen führen einen Wettstreit, der uns lähmt. Als Folge fühlen wir uns erschöpft und unsere Vorhaben bleiben unerledigt liegen.
Wie werden wir Wesentlich?
Anhand der Tierbilder können wir eine erste Ahnung von unserem Wesenskern erlangen. Um jetzt unser Verhalten nach dem Kern auszurichten, nutzen wir die verschiedenen anderen Wesen. Der Zusammenhang ist in der folgenden Abbildung dargestellt: Das Zentrum bildet der Wesenskern, also unsere prägende Persönlichkeitseigenschaft. Drum herum sind unsere anderen Persönlichkeitseigenschaften angeordnet, die wir jetzt gezielt nach dem Wesenskern ausrichten. Der große, alles umfassende Kreis beschreibt unsere Grundeinstellungen, mit denen wir das Zusammenspiel der einzelnen Wesen und des Wesenskern zu einer Ordnung bringen. Die Kreise bilden sozusagen unseren Methodenkoffer. Sie bestimmen in ihrem Zusammenspiel, wie wir unseren Wesenskern zu einem Ausdruck bringen.
Doch betrachten wir ein konkretes Beispiel: einen Lehrer. Sein Wesenskern mag es sein, etwas vermitteln zu wollen. Das entsprechende Grundwesen ist die Verbundenheit, das bewusste Gestalten des Miteinanders, um seinen Schülern etwas beizubringen. Damit er diese Aufgabe gut erledigen kann, richtet der Lehrer seine anderen Persönlichkeitseigenschaften für seinen Zweck aus.
Zuvor ist es allerdings erforderlich, dass der Lehrer den Lehrstoff aus dem Eff-Eff beherrscht, dass die Lehrinhalte für ihn selbst völlig klar sind. Erst dann kann er herangehen und seine Kenntnisse vermitteln. Das erfolgt in folgenden Schritten:
- Zuerst beobachtet der Lehrer die Schüler in seiner Klasse genau und stellt sich die Frage: Wie setzt sich die Klasse zusammen? Wo stehen die Schüler mit dem Lernen gerade? Mit der Antwort verschafft er sich eine Orientierung in der Situation.
- Weiter stellt der Lehrer sich die Frage: Was habe ich den Schülern als nächsten Schritt zu vermitteln? So kommt er dem Wesentlichen auf die Spur, dem, was er als Lehrer in der Situation wirklich möchte.
- Weiter fragt er sich: Wie kann ich den Lehrinhalt vermitteln? Als Antwort findet er verschiedene Ideen, als Ausdruck der Transzendenz.
- Dann ist ein Entschluss zu fassen als Antwort auf die Frage: Welche der Ideen greife ich konkret weiter auf? Mit dem Entschluss gibt er seinem Willen, seiner Eigenständigkeit einen Ausdruck.
- Weiter stellt sich die Frage: Wie ist der Lehrstoff zu konkretisieren? Wo gibt es noch offene Fragen? Als Resultat entsteht Klarheit.
- Und weiter: Wie ist der Lehrstoff aufzubereiten, so dass er bei den Schülern möglichst verständlich ankommt? Dies ist ein Ausdruck der Verbundenheit.
- Dann stellt sich die Frage: Was ist die Zielsetzung für die nächste Unterrichtsstunde? Die Antwort gibt eine Ausrichtung für die Unterrichtsstunde.
- Zu guter Letzt stellt sich die Frage: Wie gestalte ich die Unterrichtsstunde, damit das Lernen für die Schüler erfolgreich wird und auch Freude macht? Mit der Antwort wird der Lehrer aktiv.
Nehmen wir das Beispiel unter die Lupe
Bei dem Vorgehen lässt sich der Lehrer durch Fragen leiten und aktiviert durch diese seine verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften. Mit den selbst entwickelten Antworten richtet der Lehrer die einzelnen Wesen nach seinem Wesenskern aus.
Der verbindende Prozess richtet die Reihenfolge der einzelnen Wesen aus, in der sie zusammenwirken. Dabei wirken die Fragen als treibende Kraft. Das konstruktive Zusammenwirken, die ordnende Verbindung und der Ausgleich zwischen den Wesen entsteht aus der Grundeinstellung des Lehrers, mit der er das ganze Vorgehen gestaltet. Für den einen Lehrer mag dies die Freude und Leichtigkeit sein, mit der er seinen Lehrstoff vermittelt; ein anderer Lehrer mag besonderen Wert darauflegen, seine Lehrinhalte möglichst klar und einfach zu vermitteln – ganz nach der individuellen Veranlagung.
In dem Vorgehen richtet sich der Lehrer nach dem Wesentlichen in der Situation aus – also hier nach der Frage: Was habe ich den Schülern als nächstes zu vermitteln? – und entwickelt für diese Frage eine passende Antwort, nach der er dann die Unterrichtsstunde gestaltet. Dabei kommen dem Lehrer die Antworten nicht durch das Grübeln im stillen Kämmerlein. Für die Antworten hat er seine Kenntnisse mit der konkreten Situation der Schüler in der Klasse zusammen zu bringen.
Indem der Lehrer das für ihn Wesentliche in den Unterrichtsstunden aufgreift und zu einer tragfähigen Lösung bringt, beherrscht er mehr und mehr seinen Beruf. Dabei mögen zu Anfang durchaus die Antworten auf die einzelnen Fragen noch nicht so richtig passen, manche Fragen mögen offenbleiben oder sich Schwierigkeiten und Hindernisse in den Weg stellen. Doch mit der Zeit reift bei dem Lehrer die Vorstellung, wie er seinen Unterricht erfolgreich nach seinem Wesenskern gestalten kann. Mehr und mehr fällt dabei all das Störende, das Behindernde, das Unwesentliche ab. Schließlich beherrscht er seinen Beruf, dann weiß er um den Wert seiner Lehrtätigkeit, dann kann er seine Lehrinhalte souverän und authentisch weitergeben, dann wird er zu einer eigenständigen Lehrerpersönlichkeit, in gewissem Sinne unabhängig von dem Lehrplan.
Und wirkt alles gut zusammen: der Wesenskern, die im Miteinander ausgerichteten Wesen und die ordnende Grundeinstellung, dann erfasst den Lehrer und seine Schüler eine freudige Verbundenheit, ein Einheitsgefühl. Dann erfüllt sie eine heitere, eine befreiende Harmonie. Und dieses Gefühl nennen wir Liebe.
Das Trennen des Erzes vom Gestein
Das Vorgehen erinnert an das Trennen des Erzes von dem Gestein in einem Gemenge. Betrachten wir das Erz als das Wesentliche, als das, was wir wollen und das Gestein als das Störende, das wir loswerden möchten. Indem wir unsere Energie in das Erz stecken, also in das, was wir wollen, es erhitzen bis es rot erglüht, kommt der wahre Charakter des Erzes immer mehr zum Ausdruck. Schließlich wird es flüssig. Dann trennt sich das Erz vom Gestein und all das Störende, das Gestein, fällt als Schlacke ab. Dann leuchtet das Erz in seinem reinen Wesen.
Fazit
Die Ausrichtung auf unseren Wesenskern ist ein Quell für ein erfülltes Leben (siehe auch: dem Leben Fülle geben). So gibt uns die Entwicklung unseres eigenen Wesenskerns einen Sinn im Leben:
Wir bringen den Kern unseres Wesens immer souveräner und freier zum Ausdruck, indem wir im konstruktiven Miteinander das Wesentliche in den täglichen Situationen erkennen und dafür bereichernde Lösungen schöpfen und verwirklichen.