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Werde Schöpferisch!

Von Truman Capote stammt das Zitat: „Alle Menschen haben die Anlage, schöpferisch tätig zu sein. Nur merken es die meisten nie.“ Schön gesagt, doch jetzt drängt sich die Frage auf: Warum merken wir es nicht? Und weiter: Wie können wir Menschen denn unser schöpferisches Potential erkennen, es weiter aufgreifen und ausleben?

Doch was ist das überhaupt: Schöpferisches Sein? Ist das nicht nur etwas für Maler, Schriftsteller, Poeten, Musiker, also irgendwie für Künstler, die unserem Alltagsleben in gewissem Sinne entrückt sind? Ist Schöpferisches Sein nicht bestenfalls die Auszeit, die wir uns gönnen, um Energie zu tanken, damit wir die Wirren des Alltags besser bestehen? Ich möchte hier einen anderen Ansatz für ein schöpferisches Sein vorstellen: und zwar die Möglichkeit, unsere ganz alltäglichen Fragen und Aufgaben im Miteinander durch schöpferische Lösungen zu bereichern – um den Trott, die Mühsal, das Gewohnte hinter uns zu lassen und unser Leben durch attraktive Impulse frisch zu beleben. Doch alles der Reihe nach. Fragen wir uns zuerst:

Wie erfassen wir eine Situation?

Dafür werden wir von unseren Eltern erzogen, dafür lernen wir in der Schule und weiter in der Ausbildung, dafür sammeln wir unsere Erfahrungen im Beruf und im Miteinander. So entsteht bei jedem Menschen im Laufe der Zeit ein gewisses Ordnungssystem, das ihm vorgibt, was eine Situation ausmacht und wie in ihr zu handeln ist. Die Psychologen haben dafür ein Modell entwickelt, sie nennen es Schubkastendenken1.

Danach können wir unser inneres Ordnungssystem mit einem Schubkasten vergleichen: die einzelnen Schübe stellen die verschiedenen Kategorien dar, in die wir unsere Wirklichkeit einteilen. Und ordnungsliebend haben wir an jedem Schubkasten ein Etikett geheftet, das die Kategorie benennt. Und in den Schüben haben wir die Methoden und Erfahrungen fein säuberlich gesammelt, die uns helfen, eine Situation zu erfassen und zu gestalten.

Im Lauf des Lebens entwickeln wir Menschen unsere Schubkästen immer weiter und wir fangen an in dem System zu denken. Schließlich identifizieren wir unser „Ich“ mit den Schubladen und den Etiketten. Und wenn wir jetzt eine neue Situation betrachten, dann überlagern wir die Situation mit den Inhalten aus unseren Schubkästen. Sie geben in gewisser Hinsicht ein Raster vor, eine Orientierung, mit der wir die Situation betrachten und bewerten, um uns in ihr zurechtzufinden. Schließlich geht es uns wie der Frau in folgender Geschichte:

Wer bist Du?

Es war einmal eine Frau, die schwer erkrankt war und im Koma lag. Die Zeit verstrich, ohne dass sie wieder zu sich kam. Auf einmal erschien es ihr so, als sei sie nun tot, als befände sie sich im Himmel und stände nun vor einem Richterstuhl.
„Wer bist Du?”, fragte eine Stimme.
„Ich bin die Frau des Bürgermeisters”, antwortete die Frau stolz.
„Ich habe nicht gefragt, wessen Ehefrau Du bist, sondern, wer Du bist.”
„Ich bin Mutter von vier Kindern”, entgegnete die Frau.
„Ich habe Dich nicht gefragt, wessen Mutter Du bist, sondern wer Du bist.”
„Ich bin Lehrerin”, gab die Frau schon recht irritiert zur Antwort.
„Ich habe auch nicht nach Deinem Beruf gefragt, sondern wer Du bist.”
„Ich bin Christin”, sagte die Frau, nun schon ziemlich ratlos.
„Ich habe Dich nicht nach Deiner Religion gefragt, sondern wer Du bist.”

Und so ging es immer weiter. Alles, was die Frau erwiderte, schien keine befriedigende Antwort auf die Frage „Wer bist Du?” zu sein.
Die Frau war aber keineswegs tot, sondern erwachte wenig später aus dem Koma.
Zum Erstaunen aller wurde sie wieder gesund. Sie beschloss nun, der Frage „Wer bist Du?” auf den Grund zu gehen und auf die Suche zu gehen, herauszufinden, wer sie wirklich war.

Frei erzählt nach Anthony de Mello2

Tja, jetzt ist es ja eine ehrenwerte Absicht dieser Frau, für die Frage eine Antwort zu finden. Doch wollen wir die Antwort nicht abwarten. Lassen Sie uns stattdessen die Frage selber aufgreifen: Wer bist Du? Betrachten wir dafür die Antworten der Frau genauer. Sie beziehen sich alle auf etwas, was die Frau ist: die Frau des Bürgermeisters, Mutter, Lehrerin, Christin. Das sind alles Kategorien in ihrem Schubkasten, mit dem sie die Welt betrachtet. Aber machen diese Schubkästen den Menschen in seiner Persönlichkeit wirklich aus?  Was passiert, wenn die Frau auf einmal zum Islam übertritt? Hat sie dann ein neues „Ich“ erworben? Ist es nicht das alte „Ich“ nur mit einer neuen religiösen Orientierung?

Wir haben die Schubkästen zu überwinden!

Um die Frage „Wer bin ich“ zu beantworten, haben wir die Schubkästen zu überwinden! Jetzt können wir herangehen und die einzelnen Schubkästen in Frage stellen, um sie Schritt für Schritt zu entrümpeln. Doch das ist ein mühsamer Weg. Der endet nie. Denn es gibt so viele Schubkästen. Schier unendlich viele! Eine andere Möglichkeit besteht darin, direkt zum Kern der Person vorzudringen, also zu dem, was ihre Persönlichkeit in ihrem Inneren wirklich prägt.

Dafür brauchen wir eine andere Sicht auf die Dinge! Anstatt von den Schubläden auszugehen, stellen wir die Frage: Wie mache ich etwas? Was ist meine prägende Persönlichkeitseigenschaft, mit der ich meine Aufgaben erledige? Mit dieser Frage dringen wir unmittelbar zu unserem Kern vor, zu unserer zentralen, prägenden Eigenschaft, zum Wesen unseres Menschseins – zu unserem Wesenskern. Und auf die Frage gibt es zahlreiche mögliche Antworten. Jeder finde seine spezifische. Sei es etwa das einfühlsame Zuhören, die Fähigkeit, das Wesentliche zu erkennen, Fragen zu klären, etwas zu vermitteln, eine Situation neu zu gestalten, hilfsbereit, ausdauernd oder ausgleichend zu sein,…. und so weiter und so fort.

Doch den Wesenskern herauszufinden, ist gar nicht so einfach. Denn der Kern unseres Wesens kommt meistens gar nicht zu einem freien Ausdruck. Einerseits ist er überschattet von den ganzen Schubladen, von den ganzen Regeln, die wir zu befolgen haben. Und andererseits, nehmen wir das, was unser Wesen ausmacht, meistens gar nicht so richtig ernst. Denn unser Wesen ist uns in gewisser Hinsicht so selbstverständlich, dass wir es gar nicht als etwas Besonderes beachten, dass wir den Kern schlicht ignorieren. Stattdessen richten wir uns dann nach Außen aus, nach dem, was die anderen können oder was die Situation uns abverlangt und unterdrücken damit unseren Wesenskern.

Der Wesenskern ist der Quell unserer Schöpferkraft

Doch es ist ein zentrales, tiefes inneres Bedürfnis eines jeden Menschen, seinen Wesenskern, seine zentrale Persönlichkeitseigenschaft zu einem ganz individuellen Ausdruck zu bringen. Allerdings ist uns dieses Bedürfnis meistens nicht bewusst. Haben wir jedoch den Kern klar auf den Punkt gebracht, dann werden wir schöpferisch. Der bewusste Wesenskern ist der Quell unserer Schöpferkraft! Der Kern gibt uns eine erhöhte Perspektive, mit der wir auf die Situationen schauen und sie gestalten können. Er befreit uns von den Schubkästen, zeigt uns wie wir neue, attraktive Lösungen finden können und stärkt unsere Lebenskräfte.

Dafür haben wir unseren Wesenskern in den verschiedenen Situationen und Aufgaben des Alltags zu einem Ausdruck zu bringen. Mit den Erfahrungen, die wir dabei sammeln, werden wir zu immer eigenständigeren Personen, uns fällt es immer leichter, unser Handeln nach dem Kern auszurichten und damit wächst das Zutrauen in unsere eigenen Schöpferkräfte. Das Vorgehen erfolgt in drei Schritten:

  1. Zuerst betrachten wir die Ausgangssituation und fragen uns: Wie kann ich meinen Wesenskern in dieser Situation zu einem Ausdruck bringen?
  2. Darauf finden wir Ideen und konkretisieren diese zu einer attraktiven, tragfähigen Lösung. Dabei ist die gefundene Lösung erst einmal unabhängig von den bestehenden Schubläden.
  3. Zu guter Letzt bringen wir die Lösung in die Realität und richten die Ausgangssituation neu aus. Dabei haben wir unsere Schubkästen den neu geschaffenen Gegebenheiten anzupassen, damit wir uns in der neuen Situation auch zurechtfinden.

Als Resultat entsteht eine neue Ordnung. Durch die entwickelte Lösung ist die Ausgangssituation neu ausgerichtet und gestaltet, die Schubkästen neu sortiert. Die Voraussetzung dafür, dass die Transformation gelingt, ist, dass die geschaffene Lösung für alle Beteiligte attraktiv ist und akzeptiert wird. So wie in dieser Geschichte:

Unteilbares Erbe

Ein reicher Kaufmann liegt im Sterben. Da versammelt er seine drei Söhne um sich und teilt ihnen mit, wie sie das Erbe, seine siebzehn Kamele, untereinander aufteilen sollen: „Du mein Ältester, sollst die Hälfte meines Erbes bekommen, du mein Zweitgeborener ein Drittel und du mein Jüngster ein Neuntel.“ So sprach’s der Kaufmann und stirbt.

Doch noch bevor der Kaufmann beigesetzt ist, beginnt das Gerangel um das Erbe. Denn die Söhne stellen fest, dass sich die Kamele nicht unter ihnen aufteilen lassen, wie der Vater es von ihnen verlangt hatte. Denn bitte: was soll die Hälfte von siebzehn sein? Was ein Drittel? Was ein Neuntel? Die Kamele lassen sich so nicht untereinander aufteilen und das führt zu einem mächtigen Streit.

Zufällig kommt ein weiser Mann auf einem Kamel des Weges. Er steigt ab und erkundigt sich bei den Dreien, was denn der Grund für die Auseinandersetzung sei, und sie schildern ihm ihr unlösbares Problem.

„Aber“, sagte der Weise, „nichts leichter als das, euch kann geholfen werden. Wir nehmen mein Kamel und stellen es zu euren siebzehn dazu. Gut, nun sind es dort achtzehn Kamele. Du Ältester erhältst die Hälfte der Kamele, also neun. Du Zweitgeborener, ein Drittel, also sechs. Und du Jüngster, ein Neuntel, also zwei. Neun, sechs und zwei, das ergibt zusammen siebzehn. Und das eine Kamel, das dort steht, das ist ja das meine.“ Der Weise besteigt sein Kamel und reitet davon. Und die Erben sind glücklich ihren Konflikt gelöst zu haben.

frei erzählt nach Kambiz Poostchi3

Jetzt mögen Sie sagen: Ja ein Weiser, der kann schöpferisch sein. Doch ich? Halt! Greifen Sie Ihren Wesenskern auf. Er zeigt Ihnen, wie Sie schöpferisch sein können, er bietet Ihnen eine gestalterische Perspektive in den täglichen Situationen – vielleicht sind Sie besonders hilfsbereit, vielleicht können Sie besonders gut zuhören, gewissenhaft ihre Aufgaben verrichten Ziele definieren oder was auch immer….  

Und der Weise mag seine Lösung des Problems alleine finden. Doch das Vorgehen beschreibt einen Weg zum Miteinander. Denn für stabile Lösungen sind häufig verschiedene Perspektiven zusammenzubringen, also die Erfahrungen von unterschiedlich geprägten Menschen. So ergänzen sich Personen mit ihren verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften. In einem kooperativen Miteinander entwickeln sie attraktive, stabile Lösungen, die von allen Beteiligten begrüßt werden. Jeder stellt sich dabei die Frage: Was kann ich mit meinen individuellen Eigenschaften zu einer attraktiven Lösung beitragen?

Im Schöpferischen liegt unsere Zukunft!

Durch den bewussten Wesenskern werden wir schöpferisch. Doch wir haben darauf zu achten, dass unser schöpferisches Sein nicht von dem Alltag losgelöst ist, dass es nicht zu einer einsamen Insel der Glückseligkeit wird, sondern dass wir ganz konkrete, tägliche Aufgaben aufgreifen, um sie im Miteinander schöpferisch zu meistern und die Situationen zu bereichern. Einen Weg dahin bieten die Guten Gespräche. Mit ihnen werden wir zu Künstlern im Alltag. Also:

Werde schöpferisch!

Denn allein im schöpferischen Tätigsein, können wir neue, attraktive Lösungen

für unsere drängenden Fragen entwickeln.

Quellen:

  1. Förster, Jens: Schublade auf, Schublade zu: Die verheerende Macht der Vorurteile, Droemer, München 2020.
  2. De Mello, Anthony: Der springende Punkt, Herder, Freiburg 2015
  3. Kambiz Poostchi: Goldene Äpfel, Via Nova, Petersberg 2003