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Wie entsteht Würde?

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So heißt es in unserem Grundgesetz. Damit ist die menschliche Würde als ein hohes Gut herausgestellt. Doch was ist eigentlich Würde? Hier der Versuch einer Definition:

Würde bedeutet, sich seines eigenen Wertes bewusst zu sein.

Na schön. Doch was soll das sein: der eigene Wert? Wie können wir unseren eigenen Wert herausfinden? Wie können wir unser Leben bewusst nach dem Wert ausrichten? Und was hat das mit Würde zu tun? Auf diese Fragen gibt der Artikel eine Antwort.

Was macht einen würdevollen Menschen aus?

Doch alles der Reihe nach. Fragen wir uns zuerst: was macht eine würdevolle Person eigentlich aus? Wann sagen wir von jemandem: der ist würdevoll? Ist es das Amt, das er bekleidet, der Beruf, den er ausführt, die Erfolge, die er erzielt? Verleiht uns das, was wir tun, Würde? Denn dabei richten wir uns allzu leicht nach außen aus, nach den Anforderungen, die an uns gestellt werden, denen wir möglichst gut entsprechen. Und machen wir unsere Sache gut, dann bekommen wir eine Anerkennung: uns wird auf die Schulter geklopft, wir werden befördert, uns wird ein Orden verliehen. Und sicherlich, so erfüllt uns unsere Tätigkeit. Sie macht uns stolz. Doch ist das Würde?

Stellen Sie sich einen würdevollen Menschen vor. Was ist das Wesentliche, das ihn ausmacht? Es ist seine Ausstrahlung. Würdevolle Menschen haben eine Ausstrahlung, eine Aura, eine Präsenz, die wir, als umgebende Personen, durchaus wahrnehmen können.

Doch woher kommt diese Ausstrahlung? Sie kommt aus unserem Inneren, sie erfüllt unser gesamtes Sein und strahlt nach außen. Und was ist ihre Ursache? Wir sind würdevoll, wenn wir uns unseres Selbst bewusst sind. Wenn wir eine Vorstellung davon entwickelt haben, was uns ausmacht, was uns prägt und wie wir diese Eigenschaften in unseren täglichen Situationen bewusst zu einem Ausdruck bringen können. Wenn wir unseren eigenen Wert kennen und unser Handeln danach ausrichten.

Was ist das Wesen unseres Menschseins?

Doch halt! Was macht uns als Mensch eigentlich aus? Was ist das Wesentliche unseres Menschseins? Nun, das sind unsere Persönlichkeitseigenschaften. Die sind in jedem Menschen ganz individuell veranlagt. Allerdings gibt es stets eine dominierende Eigenschaft, die unsere Persönlichkeit maßgeblich prägt – unseren Wesenskern. (siehe auch [1]: Werde, der Du werden kannst ).

Jetzt bringen Tiere ihren Wesenskern durch ihre instinktiven Programme quasi von Geburt an ganz selbstverständlich zu einem Ausdruck. Doch wir Menschen sind viel weniger durch solche instinktiven Programme geprägt als die Tiere. Zwar haben wir von Geburt an gewisse persönliche Veranlagungen, doch die kommen nicht unmittelbar zu einem Ausdruck. Stattdessen haben wir den Kern unseres Wesens herauszufinden und zu lernen, wie wir danach unser Leben bewusst gestalten können. Dabei versetzt uns Menschen unser Bewusstsein in die Lage, unserem Wesen auf die Schliche zu kommen.   

Wir können es vergleichen mit einer Kugel, die oben auf einem Berg liegt. Diese Kugel hat das Potential, die Möglichkeit, schnell zu rollen. Doch solange sie oben auf dem Berg liegt ist dieses Potential ungenutzt. Erst wenn wir der Kugel einen Stubbs geben, wird sie immer schneller, wenn sie den Berg hinabrollt. Dann wandelt sich ihr Potential in Bewegung.

Ähnlich ist der Wesenskern in uns Menschen als Potential veranlagt. Doch wie in dem Beispiel mit der Kugel braucht es häufig einen äußeren Stubbs, der uns in Bewegung bringt, damit wir anfangen unserem eigenen Selbst mehr und mehr auf die Schliche zu kommen. Dabei wird unser inneres Potential jedoch nicht so leicht und schnell in die Bewegung verwandelt wie bei einer Kugel. Das Erkennen des Wesenskerns ist eine Lebensaufgabe.

Das Vorgehen lässt sich anhand der wilden Karde illustrieren:

Die Wilde Karde

Die Wilde Karde ist eine zweijährige Pflanze aus der Familie der Geißblattgewächse. In dem ersten Jahr bildet die Pflanze mit ihren großen, länglichen Blättern eine Rosette aus, die direkt auf der Erde liegt. In dem zweiten Jahr wächst aus dieser Rosette eine zwei bis zweieinhalb Meter hohe, stachelige Pflanze. Charakteristisch sind die Blütenstände, die in Kolben angeordnet und von schlanken, aufstrebenden Blättern umgeben sind [2].

Die Kolben bestehen aus vielen einzelnen Blüten. Als Knospe ist der Kolben grün mit zahlreichen Stacheln. In der Mitte des Kolbens beginnt die Blüte. Es entsteht ein violetter Blütenkranz, der sich weiter in zwei Kränze aufteilt, wobei der obere zur Spitze des Kolbens hinauswächst und der untere zur Basis.

Ist der gesamte Kolben verblüht, so setzt er Samen an und vertrocknet. Schließlich vertrocknet die gesamte Pflanze, bleibt aber in ihrer imposanten Erscheinung durchaus noch Jahre stehen, wobei der Wind die Samen verteilt, die auch Insekten und Vögel anlocken.

In der Heilkunde findet die wilde Karde Anwendung. Die Wurzelextrakte wirken entzündungshemmend, stärkend und entgiftend. Speziell wird die wilde Karde bei der Borreliose eingesetzt. [3]

Bewusstwerden des Selbst

Ähnlich ist das Vorgehen, wenn wir uns unseres Selbst bewusst werden. Zu Anfang haben wir das Potential, das ist vergleichbar mit dem Kolben, solange er nicht aufgeblüht ist. Dann finden wir einen ersten Ansatz, was unseren Wesenskern ausmachen könnte. Da fangen wir in unserem „Potential“ irgendwo in der Mitte an, ähnlich dem ersten Blütenring bei der wilden Karde. Bleiben wir weiter bei der Frage nach unserem Wesenskern, dann entstehen daraus zwei Fragen:

  1. Was ist mein Wesenskern?
  2. Wie bringe ich meinen Kern zu einem Ausdruck?

Mit der ersten Frage konkretisieren wir den Kern immer weiter und bringen ihn immer mehr auf den Punkt. Mit der zweiten Frage richten wir unsere täglichen Situationen nach dem Wesenskern aus. Dabei sammeln wir Erfahrungen und kommen zu einer präziseren Vorstellung von unserem Wesenskern – womit wir dann wieder leichter und sicherer unseren Kern in die täglichen Situationen einbringen können. So arbeiten die beiden Fragen Hand in Hand.

Mehr und mehr entsteht eine bewusste Vorstellung, eine Art Substanz von unserem inneren Wesen, nach der wir unser Selbstverständnis und unser Handeln ausrichten können. Schließlich haben wir unseren Wesenskern klar auf den Punkt gebracht und können unser Handeln souverän nach dem Kern gestalten. Dann haben wir unser gesamtes Sein nach dem Wesenskern ausgerichtet. Dann sind wir uns unseres Selbst und unseres eigenen Wertes bewusst und können ihn für die konkreten Situationen angemessen, befreit und souverän zum Ausdruck bringen. Und das nennen wir Würde.

So können wir die beiden Blütenringe bei der wilden Karde als die beiden Fragen nach dem Wesenskern betrachten, für die wir im Laufe der Zeit immer klarere Antworten entwickeln. Dabei wird in den Blütenkolben das Potential, also die Knospen, mehr und mehr durch die Blüten, als Bild für das sich entwickelnde Bewusstsein, in eine Substanz transformiert, die die Pflanze selbst überdauert – der vertrocknete Blütenkolben mit dem Samen.

Fazit

So können wir sagen: Das Herausarbeiten, das Bewusstwerden des eigenen Wesenskerns wirkt befreiend für die Persönlichkeit. Denn der Kern gibt uns einen Sinn im Leben, eine Identität, die wir durch unser Handeln zum Ausdruck bringen wollen. Und zugleich gibt uns der Kern eine sichere Orientierung, um im konstruktiven Miteinander unsere täglichen Aufgaben erfolgreich zu verwirklichen. So verleiht uns das Leben im Bewusstsein unseres Wesenskerns Würde und zeigt uns außerdem einen Weg auf, um unsere Zukunft erfolgreich zu gestalten. Somit sollte das Entwickeln der eigenen Würde eine zentrale Aufgabe für jeden Menschen sein. Oder wie der Neurobiologe Gerald Hüther es ausdrückt [4]:

Unsere Würde zu entdecken,

also das zutiefst Menschliche in uns,

ist die zentrale Aufgabe des 21 Jahrhunderts.

Gerald Hüther

Quellen

[1] Werde, der Du werden kannst – Dem Leben Fülle geben

[2] Wilde Karde: Traditionelle Heilpflanze mit besonderen Eigenschaften

[3] Wolf Dieter Storl: Borreliose natürlich heilen, AT Verlag, München, 2007

[4] Gerald Hüther: Würde, Pantheon Verlag, München, 2019