Die seelischen Bedürfnisse bestimmen, „Wie“ wir etwas machen. Doch dabei sind die seelischen Bedürfnisse immateriell, sie lassen sich mit unseren Sinnen nicht direkt wahrnehmen. Wir können sie nicht greifen. Wir können sie nicht fühlen. Dennoch gibt es sie. Sie bilden die Grundlage unserer prägenden Eigenschaften, die uns als Mensch oder allgemeiner als Lebewesen ausmachen. Indem wir diese Eigenschaften genau betrachten, können wir dem jeweils dominanten seelischen Bedürfnis auf die Schliche kommen. Und das gilt zum einen für Lebewesen, für Menschen, für Tiere und Pflanzen. Doch wir können den Ansatz auch übertragen auf Landschaften und auf unsere ganz alltäglichen Situationen.
Das Vorgehen ist vergleichbar mit einem Arzt, wenn er eine Krankheit diagnostiziert. Auch die Ursache der Krankheit ist oftmals zuerst unsichtbar und unbekannt. Um sie zu packen zu kriegen, geht der Arzt von den Symptomen aus – also von dem, wo es den Patienten schmerzt, wo er beeinträchtigt ist. Und die Ursache dieser Symptome möchte der Arzt ergründen, ähnlich einem Detektiv beim Lösen seines Falls. Dafür untersucht er den Patienten und schickt ihn zu weiteren Fachärzten. Bei der Untersuchung lässt sich der Arzt von Krankheitsbildern leiten, die er während seiner Ausbildung kennengelernt und während seiner Tätigkeit als Arzt immer weiter konkretisiert und vervollkommnet hat. So stellt er sich die Frage: Welches dieser Krankheitsbilder passt für den konkreten Fall? Die gute Kenntnis dieser Bilder bildet gewissermaßen die Grundlage, für eine zielsichere Diagnose der Krankheit. Und hat der Arzt das Übel zu packen gekriegt, ist die Krankheit diagnostiziert, dann weiß er, wie die Heilung in die Wege zu leiten ist.
Den Arzt leiten bei seiner Diagnose innere Bilder, also Vorstellungsbilder, was für Eigenschaften und Symptome die jeweilige Krankheit hat. Die Krankheitsbilder richten das Handeln des Arztes aus. Doch innere Bilder helfen nicht nur dem Arzt bei seiner Diagnose. Jeder Mensch hat seine eigenen inneren Bilder, die ganz wesentlich unser alltägliches Handeln, unser Fühlen und Denken prägen. Betrachten wir dazu folgende Geschichte:
Der Indianer und die Grille
Ein Indianer verließ das Reservat und besuchte seinen weißen Freund, der in einer Großstadt lebt. Zusammen zogen sie durch die Stadt. Überall herrschte rege Geschäftigkeit. Die Stadt war voller Leben, voller Lärm – das Hupen der Autos, die LKWs, die Motorräder, die Straßenbahn und dazwischen riefen und unterhielten sich die Menschen. Doch plötzlich hielt der Indianer inne und sagte: „Hörst du, da zirpt eine Grille!“ „Ach hier gibt es doch keine Grillen“, antwortete der weiße Freund, „und wenn, dann könnten wie die doch bei dem ganzen Lärm gar nicht hören.“
Der Indianer ging ein paar Schritte weiter. Vor einer Hauswand blieb er stehen, schob einige Efeublätter zur Seite und da saß eine zirpende Grille. Erstaunt sagte der Freund: „Kein Wunder, ihr Indianer könnt halt besser hören als wir Weißen.“
Die beiden gingen weiter die Straße entlang. Da kramte der Indianer aus seiner Tasche eine 50 Cent Münze hervor und ließ sie auf den Bürgersteig fallen. Sofort horchten einige der Passanten auf, blieben stehen und begannen zu suchen. Der Finder hob die Münze auf, steckte sie ein und ging froh weiter seines Weges.
„Siehst du“, sagte der Indianer, „das Geräusch der 50-Cent Münze, als sie auf das Pflaster fiel, war gewiss nicht lauter als das Zirpen der Grille. Doch ihr Weißen, ihr hört auf das Geld, ich höre auf die Grille. So nimmt jeder das wahr, das für ihn wichtig ist, wofür er sein Bewusstsein aktiviert hat, wofür er einen Gedanken hat.“
Unsere inneren Bilder bestimmen unser Handeln
Das, was wir wahrnehmen, unser ganzes Handeln, unser Fühlen und Denken wird durch unser Bewusstsein bestimmt, also durch unsere eigenen Vorstellungen, durch die Gedanken, die wir in uns tragen, durch unsere inneren Bilder, die wir uns davon machen. Unsere inneren Bilder bestimmen, was uns in einer Situation wichtig ist, was wir wahrnehmen, was uns vorantreibt, was wir wirklich wollen.
In der Geschichte sind der Indianer und die weißen Passanten geprägt durch ihre Erziehung und durch ihr Umfeld. Ihnen wurden unterschiedliche Vorstellungen vermittelt und deshalb achten sie auf verschiedene Dinge. Doch wir Menschen haben die großartige Möglichkeit, uns selbst unsere inneren Bilder zu gestalten. Indem wir eine Frage oder einen Gedanken aufgreifen und uns zu ihm eine immer konkretere und umfassendere Vorstellung machen, schaffen wir unsere eigenen inneren Bilder, die dann unsere Wahrnehmung und unser Handeln bestimmen. Und dies ist auch die Methode, mit der wir uns unsere seelischen Bedürfnisse bewusst machen können.
Doch wie geht das jetzt konkret? Wie können wir konkret eine Vorstellung zu den seelischen Bedürfnissen entwickeln? Dahin gibt es verschiedene Wege. Manche beten, andere meditieren, machen Yoga, tanzen sich in Trance, räuchern oder essen wilde Kräuter. Ich möchte hier einen weiteren Weg vorstellen: das genaue Betrachten und Auseinandersetzen mit Tieren. Indem wir uns Tiere anschauen, uns die Grundmuster ihres Wesenskerns bewusst machen, uns ihre prägenden Eigenschaften veranschaulichen, erkennen, wie sie ihr Wesen zu einem Ausdruck bringen, können wir diese Grundmuster auch in anderen Situationen „sehen“: bei Pflanzen, Landschaften, Menschen und auch bei uns selbst.
Der Ansatz ist keinesfalls neu, sondern findet sich zum Beispiel wieder bei den Betrachtungen der Krafttiere in schamanischen Traditionen oder bei den heiligen Tieren im Hinduismus. Ich habe den Ansatz lediglich aufgegriffen und methodisch weiter ausstaffiert, so dass wir die seelischen Bedürfnisse gezielt ergründen und unser Handeln nach ihnen ausrichten und befreien können.
Betrachten wir ein konkretes Beispiel
Betrachten wir Präriehunde:
Was fällt uns bei dem Betrachten der Präriehunde auf? Zuerst ist es das Interesse, die Aufmerksamkeit. Mit ihrem ganzen Wesen, mit all ihren Sinnen sind die Präriehunde darauf ausgerichtet, ihre Umgebung wahrzunehmen. Und was ist jetzt das dahinter liegende seelische Bedürfnis? Dafür stellen wir die Frage: Warum nehmen die Tiere die Umgebung so eingehend wahr? Was bezwecken sie damit? Was ist der dahinter liegende Sinn ihres Handelns? Es ist die Sehnsucht, sich eine Orientierung zu verschaffen, eine Übersicht über die Situation – um Futter zu finden und um Feinde zu erkennen.
Jetzt können wir Menschen diesen Sinn ergründen, der hinter der Wahrnehmung bei den Präriehunden steht. Dafür haben wir unser Bewusstsein. Doch die Tiere sind sich dieses Sinns nicht bewusst. Sie folgen in ihrem Handeln instinktiv angelegten Programmen, die sie prägen. Doch indem wir Tiere betrachten, die ein entsprechendes seelisches Bedürfnis in einem gewissen Extrem verkörpern, können wir eine Vorstellung davon entwickeln, was für Eigenschaften mit dem seelischen Bedürfnis verbunden sind. Und haben wir das prägende seelische Bedürfnis bei den Präriehunden erkannt, so „sehen“ wir diese Eigenschaften auch bei anderen Tieren: etwa bei einem Reh oder einem Kaninchen, die ihre Sehnsucht nach Orientierung auf ihre ganz spezifische Art zu einem Ausdruck bringen:
Und weiter können wir diese Sehnsucht nach der Orientierung auf anderen Situationen übertragen, sei es etwa in einer blühenden Blumen- oder Streuobstwiese, bei der die Fülle der Blüten und Farben die Sinne belebt und zu einem immer genaueren Betrachten einlädt:
oder bei Kindern, die mit voller Aufmerksamkeit einer Geschichte lauschen oder mit unvoreingenommener Begeisterung eine neue Situation erfassen.
Indem wir auf diese Weise zu den einzelnen seelischen Bedürfnissen immer klare Vorstellungsbilder entwickeln, schaffen und schärfen wir unsere eigenen inneren Bilder. In der Folge entwickeln wir eine immer klarere Vorstellung, wie wir die entsprechenden Persönlichkeitseigenschaften in unserem Leben zu einem Ausdruck bringen können und richten danach unser Handeln in den täglichen Situationen immer freier, leichter und souveräner aus. Wir programmieren uns gewissermaßen selbst.
Jetzt sind Sie an der Reihe!
Die folgende Abbildung zeigt eine Übersicht von Tieren, die durch die verschiedenen seelischen Bedürfnisse geprägt sind:
Jetzt mögen Sie es bitte als Ihre Hausaufgabe betrachten, bei den verschiedenen Tieren das jeweils prägende seelische Bedürfnis zu identifizieren. Als Hilfe hier die Liste der Bedürfnisse:
- Aktivität
- Eigenständigkeit
- Verbundenheit
- Wesentlichkeit
- Klarheit
- Neuausrichtung
- Verbindende Ordnung
- Orientierung
- Transzendenz
Das Identifizieren der prägenden Bedürfnisse bei den Tieren mag als Grundlage dienen, damit Sie im Weiteren selbst ihre eigenen inneren Bilder zu den verschiedenen Bedürfnissen entwickeln. So versetzen Sie sich mehr und mehr selbst in die Lage, die seelischen Bedürfnisse in unseren täglichen Situationen zu erkennen, um sie dann weiter aufzugreifen und zu einem Ausdruck bringen zu können.