Unser Leben wird durch Polaritäten bestimmt: richtig – falsch, gut und schlecht, Wahrheit – Lüge und so weiter und so fort. Die Polaritäten geben Anlass zu manch heftiger Diskussion, zu Streitigkeiten und kriegerischen Auseinandersetzungen. Und so stellt sich die Frage: Wie können wir die Polaritäten überwinden? Gibt es eine Mitte zwischen den Polen? Was macht diese Mitte aus? Wie können wir im Bewusstsein dieser Mitte unser Leben führen? Der Artikel gibt auf diese Fragen eine praktische Antwort.
Weihnachten, Jahreswechsel – das ist die Zeit der guten Wünsche: Frieden, Gesundheit, ein frohes, ein glückliches, ein erfolgreiches neues Jahr. In dieser Zeit rücken wir Menschen zusammen, tauschen uns aus – in der Familie, mit den Freunden, den Nachbarn. Für viele ist es eine Zeit der Einkehr, der Besinnung. Wir stellen uns die Frage: was ist uns eigentlich wichtig? Was wollen wir wirklich?
Doch nach dem Jahreswechsel sind unsere gefassten Vorsätze allzu schnell vergessen. Ruckzuck hat uns der Alltag wieder. Und da gelten andere Gesetze: für die Kinder sorgen, im Beruf bestehen, den Haushalt schmeißen…. Ein Termin jagt den nächsten. Irgendwo im Hintergrund mag da noch unser guter Vorsatz sein, doch mehr und mehr wird er vom geschäftigen Alltag verdrängt und schließlich verfolgen wir ihn nicht weiter.
Unsere Vorsätze bleiben auf der Strecke
Und so ist das Jahresende eine durchaus erholsame Auszeit, deren Wirkung jedoch allzu schnell verpufft. Was bleibt von den Wünschen? Wirken sie nicht geradezu wie abgedroschene Phrasen, die wir so dahinsagen, da sie sich gut anhören, da sie unserer Sehnsucht einen Ausdruck geben. Denn seien wir mal ehrlich: wir nehmen die Wünsche oft gar nicht wirklich ernst. Denn wir ergreifen nicht die Initiative, etwas zu ändern. Ja und häufig wissen wir auch gar nicht, wie wir unsere Vorsätze verwirklichen könnten. Was habe ich da schon für Möglichkeiten? Was kann ich schon für einen Beitrag leisten? Ja wir würden gerne, doch wir wissen nicht wie. Und so fangen wir an, uns als Opfer der Umstände zu sehen, arrangieren uns mit unserer Situation, geben unsere Wünsche auf, werden lethargisch, unzufrieden und krank.
Der Psychiater Eric Berne fand für diese Situation ein drastisches Bild: Stellen Sie sich vor, ein Mann steht bis zu seinem Hals in einer Jauchegrube. Auf die Frage, was er sich in seiner Situation wünsche, antwortete der Mann: „Können Sie bitte dafür sorgen, dass niemand Wellen macht!“ Er will gar nicht heraus aus der Jauchegrube, die Situation verbessern, das Grundübel beseitigen. Auf keinen Fall! Stattdessen möchte er nur, dass sich die Situation für ihn nicht verschlechtert, dass es keine Wellen gibt.
Tja. Wie kommen wir aus der Nummer raus? Haben wir das Leben als eine elende Plage hinzunehmen? Als eine Art Hamsterrad, in das wir uns einzuspannen haben, das uns von außen den Takt vorgibt, das wir am Laufen zu halten haben, das unsere Kräfte zehrt, das für uns eine leidvolle und mühsame Plackerei darstellt? Und auf der anderen Seite haben wir unsere Auszeiten – Weihnachten, Urlaub – in denen wir uns schönen, aufbauenden Gedanken hingeben oder unsere Interessen verwirklichen können.
Pole bestimmen unser Leben
Wir leben im Spannungsfeld dieser Pole: einerseits dem was wir wollen, unsere Wünsche und Sehnsüchte, die uns häufig unerreichbar erscheinen, und dem, was wir nicht wollen, das jedoch unseren Alltag prägt. Wie können wir das zusammenbringen? Wie können wir diese Pole überwinden? Wie können wir das, was wir wollen verwirklichen und dadurch unseren Alltag bereichern, ihn freudig und zugleich erfolgreich gestalten?
Die Pole beziehen sich auf das, „Was“ wir wollen. Um die Pole zu überwinden brauchen wir ein konkretes „Wie“, also eine Lösung wie wir das, was wir wollen, verwirklichen können. So betrachten wir die Situation auf zwei Ebenen
- Der inhaltlichen Ebene – sie beschreibt das „Was“, das konkrete Resultat, das wir erzielen wollen.
- Der gestalterischen Ebene – sie beschreibt das „Wie“, unser Vorgehen, das uns hilft, ein Ergebnis zu erreichen.
Und diese beiden Ebenen sind jetzt zusammen zu bringen:
Zuerst wird das konkrete „Was“ in der Ausgangssituation eruiert. Wir ermitteln, was die Ausgangssituation ist, was die einzelnen Positionen ausmacht, was die beteiligten Personen wollen, was das verbindende Ziel in der Situation ist.
Dann stellen wir uns die Frage nach dem Wie: „Wie“ kann ich das gefasste Ziel in der konkreten Situation umsetzen? Im Miteinander wird an einer Lösung solange gefeilt, bis sie tragfähig ist und eine attraktive Neuorientierung für die Situation bietet. Nachdem die Situation neu ausgerichtet ist, haben wir als Resultat ein neues „Was“ – die neu gestaltete Situation.
Betrachten wir ein konkretes Beispiel:
Am Samstag drückt mir meine Frau einen Zettel in die Hand, auf dem sie aufgelistet hat, was ich einkaufen soll – und auch wo: einige Dinge im Supermarkt, andere in der Drogerie und dann noch einiges im Bioladen. Gehorsam nehme ich den Zettel und arbeitet ihn ab, akribisch bedacht, wirklich alles zu besorgen, was auf der Liste steht. Wenn ich etwas in dem einen Laden nicht finde, gehe ich in den nächsten, um es dort zu erwerben. Stolz, meine Arbeit gewissenhaft erledigt zu haben, kehre ich nach Hause zurück.
Meine Frau ist jedoch verärgert: „Es ist doch zum Verrücktwerden“, ruft sie. „Du kaufst immer nur genau das ein, was auf dem Zettel steht!“ Ich wundere mich: „Was ist daran falsch?“ Meine Frau heult auf: „Wir wollen doch heute eine Lasagne machen, und jetzt fehlen uns die Lasagneblätter!“ Jetzt bin ich es, der verärgert ist: „Und woher soll ich wissen, was es heute Abend zu essen gibt?“
Szenenwechsel:
Am darauffolgenden Samstag bekommen wir Besuch. Schon im Vorfeld überlegen wir, was es zu essen geben soll, und entscheiden uns für eine Gemüsepfanne. Wieder schreibt meine Frau den Einkaufszettel, und wieder laufe ich am Morgen los, um die Einkäufe zu erledigen. Doch es ist vertrackt: Für die Gemüsepfanne suche ich neben Möhren auch Kohlrabi und muss feststellen, dass Kohlrabi im Bioladen ausverkauft ist. Was ist zu tun?
Doch ich habe keine Lust, von Laden zu Laden zu laufen, bis ich irgendwo Kohlrabi auftreibe. Stattdessen werde ich kreativ und frage mich, welches Gemüse alternativ zu den Möhren passen würde. Ich entscheide mich für Zucchini und wähle dazu noch etwas Staudensellerie für den Geschmack. Ja, das passt doch!, denke ich mir. Als ich mit den Einkäufen nach Hause komme, freut sich meine Frau, die gleich damit beginnt, die passende Gewürzmischung zusammenzustellen und die geeigneten Kräuter. Am Abend servieren wir den Gästen eine eigene Variation der Gemüsepfanne. Das Resultat schmeckt köstlich, und wir haben ein neues Rezept, das unsere Sammlung bereichert.
Nehmen wir die Situation unter die Lupe:
Was sind die zwei Ebenen in diesem Beispiel:
- Die inhaltliche Ebene – das ist das Tätigen des Einkaufs.
- Die gestalterische Ebene – sie bestimmt, wie der Einkauf durchgeführt wird.
Doch in der ersten Situation fehlt mir die Information, die eigene Vorstellung davon, was es zu essen geben soll. So bemühe ich mich bei dem Einkauf, den Zettel gewissenhaft abzuarbeiten. Der Einkaufszettel bestimmt mein Handeln, ihm ordne ich mich sklavisch unter, ohne zu wissen, warum und wofür. Doch ich kann keinen eigenen, kreativen Beitrag beim Einkaufen leisten. So bemerke ich auch nicht, dass meine Frau vergessen hat, die Lasagneblätter zu notieren.
Im zweiten Fall weiß ich über das Kochvorhaben Bescheid. Ich verfolge mit dem Einkauf ein konkretes Ziel und habe eine klare Vorstellung davon, was ich mit dem Einkauf erreichen will. Diese Zielvorstellung richtet den Einkauf aus. Sie macht mich zum Gestalter der Situation. Sie leitet mich, bestimmt mein Handeln und macht mich frei von dem Zettel. So kann ich selbst mitdenken und mir die Frage stellen: Was ist eine geeignete Gemüsekombination für das Abendessen? Ich kann meine Einkäufe dann nach der Antwort ausrichten, die ich selbst finde. Ich benötige den Einkaufszettel zwar trotzdem noch, aber jetzt dient er mir mehr zur Orientierung und Erinnerung. Die bewusste Zielvorstellung – das gemeinsame Essen – richtet die Situation aus: sie gibt mir eine Orientierung beim Einkaufen und meiner Frau beim Auswählen der passenden Kräuter und Gewürze. So wird das Essen lecker und wir haben einen gelungenen Abend mit unseren Freunden.
Schritt für Schritt
Wichtig bei dem Vorgehen ist, dass wir unsere Ziele so wählen, dass wir sie selbst oder im Miteinander verwirklichen können, dass sie im Rahmen unserer eigenen Möglichkeiten liegen. Jetzt mag das Beispiel etwas alltäglich wirken, klein und unbedeutend. So können wir doch gar nicht die großen, drängenden Probleme lösen!
Halt! Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Fangen wir an mit den alltäglichen, vermeintlich kleinen und unbedeutenden Dingen, und schaffen wir dafür attraktive Lösungen. Erfreuen wir uns an den Resultaten. Erspüren wir, wie die vermeintlich kleinen Schritte unsere Zuversicht in die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten stärken. So wächst die Bereitschaft, die nächste Aufgabe etwas größer werden zu lassen – im Rahmen der Familie, unter Freuden, bei der Arbeit, im Verein. Schritt für Schritt wächst unser Vertrauen in die eigene Schöpferkraft und wir können immer größere Aufgaben angehen – bis wir uns schließlich in der Lage sehen, attraktive Lösungen für die drängenden gesellschaftlichen und politischen Aufgaben zu schöpfen.
Also hören wir auf, über die Umstände zu klagen oder anderen vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen hätten. Werden wir selbst aktiv – im Rahmen unserer ganz individuellen Möglichkeiten. Schaffen wir selbst attraktive Lösungen, indem wir im konstruktiven Miteinander die verschiedenen Vorstellungen zusammenbringen. Denn erst der Austausch verleiht den Lösungen Stabilität und Farbe, so dass unser Leben freudiger, befreiter und erfolgreicher wird.
Tango im Hamsterrad
Und das Hamsterrad? Sicherlich, die äußeren Anforderungen existieren. Wir haben sie auch wahrzunehmen, zu erledigen. Jedoch nicht, indem wir uns nur nach dem äußeren Ziel strecken, sondern indem wir selbst eine aktive Vorstellung entwickeln, wie wir mit unseren eigenen Möglichkeiten die Aufgabe erledigen können. Wir tanzen Tango im Hamsterrad! Oder mögen Sie lieber Walzer, Foxtrott oder Rock’n‘Roll? Wie es Ihnen passt. Bringen Sie in Ihre Tätigkeit Ihre eigenen Vorstellungen, Ihre eigenen Persönlichkeitseigenschaften zum Ausdruck, damit das Tun zu einer Freude wird und Sie nicht zum Sklaven des Hamsterrades verkommen. (siehe auch: Werde, der Du werden kannst)
Dabei ist es ein stetes Austarieren, ein stetes Abwägen zwischen den Polen, zwischen den äußeren Anforderungen und unseren eigenen Vorstellungen. Doch indem wir klare Ziele definieren, die für uns wirklich wichtig sind und für diese mit unseren Möglichkeiten attraktive Lösungen schöpfen, entsteht eine Mitte zwischen den Polen in Form einer konkreten Vorstellung, wie wir das gesetzte Ziel erreichen können. Dabei haben wir bewusst darauf zu achten, dass diese Mitte für uns selbst, für unsere Mitmenschen und für die gesamte Situation wirklich passt, dass sie attraktiv ist und eine verlässliche Lösung für die Aufgabe darstellt.
Mit dem Entwickeln eines konkreten Lösungsbildes für eine konkrete Aufgabe oder Frage, überwinden wir die Polaritäten. Wir schaffen mit unseren eigenen Kräften einen Beitrag für eine attraktivere Zukunft.
Zum methodischen Vorgehen siehe auch den Artikel: Vielfalt im Einklang.