Sokrates: Unser Denken bestimmt, was wir sehen und wie wir Handeln. Und daher ist es eine hohe Kunst, zu unterscheiden, ob ein Gedanke beim Betrachten der Situation hilfreich ist, oder ob er unsere Wahrnehmung stört.
Xanthippe: Ja das kenne ich. Allzu oft stehen wir uns mit unseren Gedanken selbst im Weg. Wie in dieser Geschichte:
Mullah Nasrudin lebte vor langer Zeit einmal in Bagdad. Und es begab sich, dass ein Bürger der Stadt am Abend auf seinem nach Hause Weg Mullah Nasrudin auf der Straße kniend antraf.
Der Bürger kannte Mullah Nasrudin, entbot ihm seinen Gruß und fragte, wieso er denn auf dem Boden neben einer Laterne saß.
„Mein Schlüssel, ich habe meinen Schlüssel verloren.“, antwortetet Nasrudin. Das erklärte natürlich wieso der Mulla auf dem Boden kniete. Da der Mann aufrichtig war, half er Mullah Nasrudin bei der Suche nach dem Schlüssel.
So suchten die beiden im Schein der Laterne nach dem Schlüssel. Es wurde immer später, doch sie fanden den Schlüssel nicht. Um Mitternacht sagte der Bürger sodann: „Mullah, wir haben jetzt jeden Stein dreimal umgedreht. Dein Schlüssel ist nicht hier. Wo hast du ihn denn verloren?“
Der Mullah streifte sich den Staub vom Gewand und antwortete: „Dort hinten in dem Gebüsch habe ich ihn verloren.“ Der Mann traute seinen Ohren nicht und erwiderte ungläubig: “Aber wieso suchen wir dann hier unter dieser Laterne, und nicht dort hinten, wo du den Schlüssel verloren hast?“
Mulla Nasrudin schmunzelte: „Das ist doch ganz klar. Weil es hier im Laternenschein viel angenehmer ist zu suchen.“
Sokrates: Ja diese Situation kennt wohl jeder. Irgendwie machen wir alle gerne das, was für uns bequem und angenehm ist, was wir kennen, was für uns vertraut ist und verlieren dabei das Wesentliche in der Situation ganz aus den Augen.
Xanthippe: Schon. Nur wie können wir diese Fallen aufdecken? Wie können wir erkennen, ob ein Gedanke für die Situation hinderlich oder angebracht ist? Wie können wir zum Wesentlichen in einer Situation vordringen? Denn das Wesentliche ist doch unsichtbar, mit unseren Sinnen gar nicht direkt erfassbar.
Sokrates: Dafür haben wir unsere Meinungen, Ansichten, Gefühle und Urteile kritisch zu hinterfragen. So werden die störenden Annahmen als unpassend entlarvt, um sie dann loszulassen.
Xanthippe: Und wenn wir eine irritierende Annahme ausgemerzt haben, dann sehen wir die Situation in einem neuen Licht: weiter, offener und unvoreingenommener.
Sokrates: Genau! Dafür durchdringen wir Schicht für Schicht unsere fixierten Ansichten, bis wir auf das Kernbedürfnis stoßen – zu dem, was in der Situation wirklich wichtig ist.
Xanthippe: Wo drückt der Schuh? Ist die Frage, die zu beantworten ist. Dabei gehen wir vor wie beim Schälen einer Zwiebel. Die Frage „Warum?“ ist unser Schälmesser.
Sokrates: Zur Warnung sei gesagt: Diese Art des Dialogs ist sehr behutsam anzuwenden!
Xanthippe: Kinder können das. Sie hinterfragen, ganz natürlich, alles mit „Warum?“. Kinder sind neugierig und unbedarft und geben sich dabei mit plausiblen Antworten zufrieden.
Sokrates: Ja doch wir erwachsenen Menschen haben das „Warum?“ fragen verlernt. Wir müssen uns geradezu überwinden, „Warum?“ zu fragen, denn allzu oft fühlt sich das Gegenüber auf den Schlips getreten.
Xanthippe: Denn wir identifizieren wir uns mit unseren Meinungen und Ansichten, selbst wenn diese in einer aktuellen Situation gar nicht angebracht sind.
Sokrates: Und werden die Meinungen in Frage gestellt, dann fühlen wir uns attackiert oder genötigt, uns zu rechtfertigen. Das führt schnell zu Widerständen, wir gehen in eine Abwehrhaltung und verteidigen unsere Meinungen.
Xanthippe: Um Auseinandersetzungen zu entgehen ist es oft angebracht, wenn wir die Meinungen einfach ‚im Raum stehen lassen‘. Wir halten sie sozusagen in der Schwebe, ohne sie zu beurteilen oder zu bewerten. Stattdessen hinterfragen wir die Meinung weiter, um das dahinter versteckt liegende, tatsächliche Bedürfnis zu ergründen.
Sokrates: So wird der Beitragende selbst aufgefordert, seine Meinungen, im Hinblick auf das gemeinsame Anliegen hin, zu überprüfen.
Xanthippe: Um dem zentralen Bedarf auf die Schliche zu kommen, können wir direkt bei unserer Sprache ansetzen, indem wir auf vage Aussagen, Floskeln und Formulierungen achten und uns fragen: Was meinen wir tatsächlich? Was steckt hinter dem Wort? Was wäre eine treffendere Formulierung in der Situation?
Sokrates: Ebenso können wir unsere pauschalen Urteile und Ansichten hinterfragen: Trifft die Meinung in der Situation wirklich zu? Was passt stattdessen?
Xanthippe: Ja die pauschalen Urteile sind augenfällig. Aber wir können unseren Rahmen weiterspannen und darüber hinaus alle unsere Urteile, Bewertungen, Annahmen, Meinungen, Vorstellungen, Gewohnheiten und automatischen Reaktionen hinterfragen.
Sokrates: Vorsicht! Da öffnen wir leicht die Büchse der Pandora. Dann kommen immer mehr Meinungen, Urteile, Emotionen und Anschuldigungen zu Tage und wir kriegen den Deckel nicht mehr zu, bekommen das Wesentliche in der konkreten Situation nicht zu fassen.
Xanthippe: Ah so, die Menge der hinterfragten Annahmen ist also gar nicht so wichtig. Stattdessen sind die wesentlichen Annahmen in der spezifischen Situation herauszufinden und zu klären.
Sokrates: Genau. Und da ist weniger oft mehr. Dafür brauchen wir ein gutes Urteilsvermögen. Wir haben zu unterscheiden, was in der Situation wichtig und was unwichtig ist.
Xanthippe: Und wir haben auf unsere Gefühle zu achten, die in der Situation zum Ausdruck kommen. Wir haben sie wahrzunehmen und dann weiter zu hinterfragen: Welcher Wunsch, welche Angst drückt sich durch die Emotionen aus?
Sokrates: Ja heute ist es weit verbreitet, von den Emotionen auszugehen, um den Bedarf zu ermitteln. Aber stellen wir doch einmal klar: unsere Emotionen sind Reaktionen auf die äußeren Umstände. Wenn ich die Emotionen hinterfragen, dann finde ich die Ursache für meine Reaktion. Doch diese Ursache weist nicht direkt auf den Bedarf, also auf das, was ich in der Situation wesentlich ist, sondern auf das, was meine Reaktion ausgelöst hat.
Xanthippe: Also zum Beispiel in der Geschichte mit dem Mullah Nasrudin: wenn der eifrige Helfer seine Emotionen hinterfragt, dann sucht er eine Begründung, weshalb er sich über Nasrudin ärgert, als er erfährt, dass der Schlüssel im Gebüsch liegt.
Sokrates: Genau. Für den Ärger wird die Ursache gesucht. Der eifrige Helfer fühlt sich von Nasrudin verarscht, ist sauer, seine Zeit so verschwendet zu haben und so weiter…..
Xanthippe: So eine Ursachenforschung mag ja mitunter durchaus hilfreich sein, doch nutzt sie gar nichts, um den Schlüssel zu finden.
Sokrates: So ist es. Den Schlüssel finden, das ist der Bedarf! Statt der Ursache des Ärgers auf den Grund zu gehen, sollten die beiden froh sein, ihre Anstrengungen unter der Laterne als ‚Nebenschauplatz‘ enttarnt zu haben und mit neuem Elan ihre Suche nach dem Schlüssel in dem Gebüsch fortsetzen.
Xanthippe: So ist es! Wir haben nicht da zu suchen, wo das Licht scheint, sondern wir haben das Licht dahin zu bringen, wo etwas zu suchen ist!
Sokrates: Auch wenn das mitunter sehr mühsam ist.
Xanthippe: Ja allzu häufig sind wir geradezu gefangen in solchen ‚Nebenschauplätzen‘ und merken nicht, wie sie uns von dem Wesentlichen abhalten.
Sokrates: Dann braucht es den Stups von außen, von jemanden, der uns direkt fragt: Hey, warum machst Du das? Und die Antwort ist dann befreiend und erleichternd für alle Beteiligte.
Xanthippe: Aber jetzt sag mal ganz klipp und klar: Wie können wir konkret vorgehen, um den Bedarf aufzuspüren?
Sokrates: Also ich gehe bei einer konkreten Fragestellung oder in einer Situation von der Sprache aus. Denn die Sprache ist ein unmittelbares Spiegelbild unseres Denkens. Die Sprache gibt uns ein Mittel an die Hand, unsere Gedanken zu hinterfragen, zu prüfen und zu klären. Die Klärung unserer Gedanken weist uns den Weg zum Bedarf.
Xanthippe: Du meinst, indem wir bei den Antworten auf unsere „Warum?“ Fragen eine einfache und klare Sprache entwickeln, so dass die verwendeten Worte die Begebenheit treffend, angemessen und verständlich beschreiben, erhalten wir ein immer umfassenderes und genaueres Bild von der Situation.
Sokrates: Genau und gleichzeitig schälen wir das Kernbedürfnis für die Situation immer mehr heraus, ergründen des Pudels Kern.
Xanthippe: Gehen wir bei dem Hinterfragen behutsam vor, verlieren unsere Ansichten, Emotionen und ‚Nebenschauplätze‘ mehr und mehr ihre dominante Kraft, treten langsam in den Hintergrund, der Bedarf kommt zum Vorschein und wir sehen die Situation in seinem Licht.
Sokrates: Es ist wie das allmähliche Auflösen des Morgennebels. Das aufsteigende Sonnenlicht liegt anfangs nur schemenhaft hinter dem Nebel, aber die klaren Konturen treten immer deutlicher hervor, der Nebel löst sich auf, bis die Sonne die Landschaft vollständig ausstrahlt.
Xanthippe: Dabei kann der Bedarf oder Wunsch entweder einen Mangel betreffen, den es zu beheben gilt, eine Sehnsucht, die gestillt werden möchte, einen Konflikt, den es zu befrieden gilt, ein Problem, das zu lösen ist, oder eine Frage, die beantwortet werden will.
Sokrates: Ja jede Situation hat ihren ganz spezifischen Bedarf. Dahinter werden in den Guten Gesprächen 10 zentrale Bedarfe oder Grundbedarfe unterschieden, die mit entsprechen Tätigkeiten verknüpft sind, um den Bedarf zu einer Lösung zu bringen.
Xanthippe: In den Guten Gesprächen der situative Bedarf Schritt für Schritt auf einen der 10 Grundbedarfe zurückzuführen.
Sokrates: Dabei ermöglicht die Kenntnis der Grundbedarfe ein zielgerichtetes Identifizieren des passenden zentralen Bedarfs in einer Situation.
Xanthippe: Es ist wie bei einem Arzt, wenn er eine Diagnose stellt. Dabei gleicht der Arzt im Hinterkopf seinen Untersuchungsbefund mit den verschiedenen Krankheitsbildern ab und erhält dadurch Hinweise für weitere Untersuchungen – solange bis die Ursache des Übels identifiziert ist.
Sokrates: Doch in unseren Gesprächen verbindet der ermittelte zentrale Bedarf ausschließlich die Teilnehmer in der aktuellen Situation. Andere Menschen in der gleichen Situation mögen einen ganz anderen Bedarf sehen, gemäß ihrer eigenen Vorstellung und Fragestellung.
Xanthippe: Ja in den Gesprächen, in dem menschlichen Miteinander ist der zentrale Bedarf nicht kategorisch zu finden, sondern nur im Hier und Jetzt der konkreten Situation.