Die Befreiung unseres Wesens erfolgt über das Bewusstwerden unseres Wesens, dem Entwickeln einer konkreten, einer lebendigen, eigenen Vorstellung der einzelnen Wesen mit ihren spezifischen Eigenschaften. Dabei wirkt jedes der neun Wesen als Grundmuster, die in ihrem Zusammenspiel einerseits uns Menschen prägen aber auch unsere gesamte Umwelt. Doch wir Menschen haben die Fähigkeit, diese Muster erfassen zu können, sie sehen zu können – etwa bei den Tieren, Pflanzen, Landschaften oder auch in sonstigen Dingen. Als Voraussetzung dafür brauchen wir eine gute Vorstellung von den zugrundeliegenden Mustern. Haben wir uns diese Vorstellung geschaffen, dann können wir das Muster auch in anderen Lebewesen oder Dingen wiedererkennen. Um eine Vorstellung dieser Grundmuster zu gewinnen, ist es zweckmäßig, Lebewesen zu betrachten, die das entsprechende Grundmuster mit einer hohen Perfektion verkörpern. Betrachten wir ein konkretes Beispiel:
Ein Löwe gilt als Inbegriff der Würde. Diese strahlt er in seinem majestätischen Wesen aus. Dabei verkörpert er Ruhe und Erhabenheit verbindet Gelassenheit mit Stolz, zeigt Entschiedenheit, ist aufgerichtet, kraftvoll, mutig, willens- und durchsetzungsstark und gleichzeitig eigenständig und frei. Diese Eigenschaften machen das Wesen des Löwen aus. Doch wir wollen tiefer schauen, die Ursache des Wesens ergründen – ähnlich einem Arzt beim Stellen der Diagnose. Also fragen wir weiter: was verleiht dem Löwen seine Würde? Warum wirkt er so majestätisch? Es muss etwas sein, dass ihn aus seinem tiefen Inneren her ausrichtet. Etwas das ihn aufrichtet, ihm einen guten, einen sicheren Stand gibt, etwas das ihn trägt, das er in seiner Art ganz selbstverständlich zu einem Ausdruck bringt. Es ist die Herrlichkeit seines Seins, der Stolz mit dem er das „Ich bin!“ souverän und würdevoll verkörpert und ausstrahlt. Diese Darstellung seines Selbst ist bei dem Löwen der zentrale innere Bedarf, sein Wesenskern, seine tiefe Sehnsucht, die ihn in seiner ganzen Erscheinung prägt. Der entsprechende seelische Grundbedarf ist die Eigenständigkeit, die der Löwe in einer hohen Perfektion verkörpert. Dabei ist sich der Löwe seines Wesens nicht bewusst. Er bringt den Bedarf ganz instinktiv in seinem Wesen zum Ausdruck.
Indem wir das Wesen der Eigenständigkeit beim Löwen ergründet haben, können wir sie auch bei anderen Tieren erkennen:
So verkörpert ein Luchs auch eine natürliche Eigenständigkeit. Ebenso ein Hirsch oder ein Mufflon. Die vier Tiere verkörpern alle den gleichen Grundbedarf: Eigenständigkeit, doch jeweils auf eine ganz spezifische Art. So lebt der Löwe in der offenen Savanne und steht, wenn er sich aufrichtet, sogleich im Vordergrund, wohingegen der Luchs, der Hirsch und auch das Mufflon eher zurückgezogen im Schutze der Wälder leben und nur selten hervortreten. Zweifellos verkörpert der Löwe die Eigenständigkeit am majestätischsten und das macht ihn zum König der Tiere.
Haben wir uns anhand der Tiere ein gutes Bild von der Eigenständigkeit verschafft, dann „sehen“ wir Aspekte der Eigenständigkeit auch in ganz anderen Situationen: etwa bei der wilden Karde, in einer verschneiten Landschaft oder bei einem Menschen.
Durch das Erkennen der „Eigenständigkeit“ in immer anderen Zusammenhängen, verschaffen wir uns eine immer umfassendere, differenziertere und konkretere Vorstellung von der Eigenständigkeit. Schließlich können wir uns daranmachen, die Eigenständigkeit in unserem eigenen Leben aufzuspüren und zum Ausdruck zu bringen. Auch dabei können wir uns von den Tieren leiten lassen. Welches Tier verkörpert mein Wesen am ehesten? Welches entspricht mir am besten: ist es ein Löwe, eine Hauskatze, das Mufflon, der Hirsch? Oder passt für mich besser der Panther, der Luchs, der Igel oder was auch immer. Durch das Betrachten der Tiere kommen wir unserem eigenen Wesen, unserer eigenen „Eigenständigkeit“ mehr und mehr auf die Schliche. Dabei lassen wir uns von der Frage leiten: Wie stelle ich mein Ich nach Außen da? Wie verkörpere ich das „Ich bin!“. So entwickeln wir eine ganz eigene Vorstellung davon, was für uns „Eigenständigkeit“ bedeutet, welche Eigenschaften wir damit verbinden und wie wir diese in unserem Handeln zu einem Ausdruck bringen.
Dabei braucht es etwas, das mir diese Eigenständigkeit verleiht. Etwas das mich ausmacht, das ich darstellen will. Einen Inhalt, den ich zum Zentrum meines Lebens mache, der mir einen sicheren Stand gibt, mich aufrichtet und den ich zu einem Ausdruck bringe. So können wir uns etwa über eine Aufgabe definieren, über unsere Rolle oder Position, die wir ausüben, über unsere Tätigkeiten oder Interessen. Dann richten wir uns danach aus, was die Aufgabe von uns verlangt. Anders der Löwe. Er ist sich selbst genug und das reicht ihm. Dieses Sein verkörpert er. Diese Eigenständigkeit ist das Zentrum seines Wesens. Sein Wesenskern. Und ebenso können auch wir Menschen uns nach unserem Wesenskern ausrichten. Wir können den Kern aufgreifen und ihn zum Maßstab unseres Lebens machen. Anstatt sich über die äußeren Aufgaben zu definieren, die das Leben mit sich bringt, drehen wir den Spieß sozusagen um. Der Wesenskern richtet uns aus. Der Wesenskern wird unser Maßstab. Nach ihm richten wir unser Handeln aus. Nach dem Kern gestalten wir die täglichen Aufgaben, bringen unsere spezifischen Fähigkeiten und Eigenschaften ein und entwickeln uns weiter.
Jetzt ist dieser Wesenskern jedoch erst einmal triebhaft in uns veranlagt. Der Trieb gibt uns das Ziel vor und steuert unsere Wahrnehmung, den Willen und das Handeln. Indem wir aber immer weiter die Frage stellen: wie bringe ich meinen zentralen Bedarf in den täglichen Situationen zu einem Ausdruck?, entwickle ich mehr und mehr eine eigene Vorstellung, wie ich die täglichen Situationen nach dem Wesenskern gestalten kann. Und je mehr ich dieses „Wie“ in den Vordergrund stelle, umso mehr stelle ich fest, dass mir der Treib und der Zwang beim Erreichen meiner Ziele im Wege steht. Dann nehme ich die Verkrampfungen, die Zwänge und die Engstirnigkeit war, die aus dem Trieb resultieren. Bin ich zu diesem Punkt gekommen, dann kann ich den Zwang, den Trieb überwinden. Wenn ich erfahre, dass die Vorstellung von dem „Wie“ mir eine Sicherheit und Orientierung beim Bewältigen der unterschiedlichen täglichen Situationen bietet, treten Wille, Trieb und Zwang mehr und mehr in den Hintergrund. Dann erkenne ich, dass das entwickelte „Wie“ einen Wert darstellt, um den Wesenskern zu einem Ausdruck zu bringen. Dabei ist der Wert unabhängig von den konkreten Situationen und auch unabhängig von meiner Person. Der Wert ist universell. Indem ich meine individuelle Vorstellung von diesem Wert mehr und mehr entwickle, fängt der Wert an, in mir zu Leben. Schließlich verkörpere ich ihn und strahle ihn aus. Dann ist das Triebhafte an dem Wesenskern überwunden und ich kann den entsprechenden Wert, das Wesen eigenständig und frei in meinem Leben zum Ausdruck bringen.
Bei der Frage des „Wie“ greife ich unterstützend auf die Wesen der anderen Grundbedarfe zurück. Sie bilden meinen Werkzeugkoffer, mit dem ich meinen Wesenskern zum Ausdruck bringe und die täglichen Situationen meistere. Aus den reifenden Vorstellungen der verschiedenen Wesen in Kombination mit den gesammelten Erfahrungen, lassen sich die täglichen Situationen immer sicherer, leichter und freier nach dem Wesenskern ausrichten. Dann ist der zentrale Bedarf kein automatisches Programm mehr, dass mich erfasst, das in mir wie auf Knopfdruck abläuft, mich mitreißt und bestimmt. Stattdessen gehe ich nach einer von mir ganz bewusst entwickelten Vorstellung vor. Ich richte die Wesen für meinen Zweck bewusst aus. Durch diese selbst entwickelte, konkrete, detaillierte und genaue Vorstellung werde ich Herr meines Willens. Je klarer die Vorstellungen werden, umso mehr erfüllt mich eine innere Ordnung, nach der ich mein Handeln bewusst ausrichte. Das Betrachten der Tiere bietet auf diesem Weg eine mögliche Hilfestellung und Orientierung.
Doch gehen wir Schritt für Schritt vor. Die Befreiung der Wesen erfolgt anhand von 3 Fragen:
- Was ist mein Wesenskern?
- Wie richte ich die Wesen aus?
- Wie koordiniere ich die Wesen?