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Das Wesen zum Ausdruck bringen

Das Wesentlichste ist, dass wir das sind,

wozu uns die Natur bestimmt hat.

Man ist stets nur gar zu sehr das,

was die Menschen wollen, dass man sein soll.

Jean-Jacques Rosseau

Einleitung

Für mich als Physiker ist die Vorstellung ganz selbstverständlich, dass hinter den Erscheinungen in unserer Welt universelle Gesetzmäßigkeiten existieren. Kennen wir diese Gesetzmäßigkeiten, dann sehen wir in den Ereignissen in unserer Umwelt eine Ordnung, dann verstehen wir die Mechanismen, dann können wir die Gesetzmäßigkeiten selbst aufgreifen und unser Handeln aktiv nach ihnen ausrichten.

Doch sind die Gesetzmäßigkeiten zuerst einmal verborgen. Sie sind nicht direkt erfassbar. So ist es das Bestreben der Physiker, die Gesetze der unbelebten Natur zu ergründen, um zu einem immer tieferen Verständnis zu gelangen. Und ist ein Naturgesetz aufgespürt, dann können wir Menschen es nutzen und in vielfältiger Form in unserem Alltag und in der Technik anwenden.

Ähnlich den Naturgesetzen in der unbelebten Natur gibt es auch universelle Gesetzmäßigkeiten für die belebt Natur, die die Pflanzen, die Tiere und uns Menschen prägen. Indem wir diese Gesetzmäßigkeiten aufgreifen, sie immer mehr für uns klären und unser Handeln danach ausrichten, können wir unser soziales Miteinander neu beleben und bereichern.

Doch was soll das Wesentliche sein, das uns Menschen prägt? Wie können wir dieses Wesentliche aufgreifen, um danach unser Verhalten gezielt auszurichten? Auf diese Fragen gibt dieser Artikel eine mögliche Antwort.

Was ist das Wesentliche?

Doch was soll das sein – das Wesentliche? In der unbelebten Natur verstehen wir darunter den Kern einer Sache, die Essenz, die zugrundeliegende Gesetzmäßigkeit. Und wenn wir nach dem Wesentlichen in der belebten Natur fragen, da hat sich in der Philosophie und Geisteswissenschaft der Begriff des Wesens eingebürgert. Nun gut. Also haben wir uns zu fragen: Was sind Wesen?

Wesen bezeichnen die vielfältigen Erscheinungen in der belebten Natur. Lebewesen. Wir beziehen die Wesen auf Menschen, Tiere und manchmal auch auf Pflanzen. Darüber hinaus beschreibt das Wesen unsere Eigenschaften. Wir sagen: „Der hat ein gutes Wesen“ – womit wir einen inneren Wert der Person bezeichnen, etwas Schönes, etwas Richtiges im Gegensatz zum Unwesen, womit wir etwas Schlechtes, etwas Falsches verbinden. Das Wesen steht im Gegensatz zum Schein. Der Schein ist das Äußere, die Fassade, die Maske, die wir in den täglichen Situationen zeigen. Das Wesen steht dahinter. Es ist verborgen. Wir können es nicht direkt wahrnehmen. Dennoch prägt es uns. Wir können sagen: Ein Wesen bringt eine Grundeigenschaft eines Lebewesens zum Ausdruck, die es in seinem tiefen Inneren prägt. Es ist das bestimmende Grundprinzip, durch die ein Lebewesen das ist und das werden kann, was es ist. Dafür verfügt jedes Wesen über spezifische Eigenschaften, die es in seinem Äußeren und in seinem Verhalten zum Ausdruck bringt. In den Lebewesen spielen die verschiedenen Wesen zusammen – entsprechend der unterschiedlichen Eigenschaften.

Die Anzahl der Wesen ist überschaubar. Ich möchte hier neun unterscheiden, mit ihren entsprechenden zentralen Eigenschaften:

Der Wesenskern

Dabei zeichnet jedes Lebewesen eine dominierende Eigenschaft aus, die als Wesenskern in dem Lebewesen verkörpert ist und zu einem Ausdruck drängt. Für diesen Zweck bindet das Lebewesen die anderen Wesen unterstützend mit ein, gemäß der spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten. So prägt der Wesenskern maßgeblich Verhalten, Charakter und auch das Aussehen der Lebewesen. Er bestimmt ihr Sein. Der Kern ist das gestaltende Grundmuster hinter unserem Denken, Fühlen und Wollen.

Doch lässt sich der Begriff des Wesens noch weiter fassen. Er lässt sich nicht nur auf das Lebendige beziehen, sondern auf alle Dinge, auf alles was uns umgibt. Wir sprechen vom „Wesen der Dinge“ und meinen damit das Bedürfnis, den Zweck, der in einem Ding, in einer Sache, einer Landschaft oder Situation zum Ausdruck drängt.

Doch bleiben wir bei den Lebewesen. Wir Menschen haben die großartige Fähigkeit, die Wesen erkennen zu können. Zugegeben, das Erkennen des Wesenskerns ist bei Menschen durchaus eine schwere Sache. Dagegen sind die Wesenskerne bei den Tieren relativ leicht auszumachen. Tiere bringen ihr entsprechendes Wesen durch ihren Instinkt direkt und unverfälscht zu einem Ausdruck. Schauen wir uns Tiere an und entschlüsseln ihren prägenden Wesenskern:

  1. Die Präriehunde sind charakterisiert durch ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit, mit der sie die Umgebung wahrnehmen und sich eine Orientierung verschaffen.
  2. Der Dachs ergründet eine Situation, er dringt zum Wesen vor.
  3. Der Adler zieht am Himmel seine Kreise. Er ist dem irdischen entrückt, frei und unabhängig und hat dabei eine gute Übersicht über die Situation.
  4. Der Löwe ist geprägt durch seine Eigenständigkeit, die er mit einer selbstverständlichen Würde zu einem Ausdruck bringt.
  5. Den Uhu kennzeichnen die großen Augen, die es ihm ermöglichen, auch des Nachts gut zu sehen und erfolgreich zu jagen. Er bringt Klarheit in das Dunkel.
  6. Die Affen zeichnet ihre Verbundenheit, das soziale Miteinander aus, in dem sie sich gegenseitig lausen. (Die Präriehunde sind auch in einer Gruppe, doch wichtiger als die Gestaltung des Miteinanders, ist ihnen das Wahrnehmen der Situation.)
  7. Ausgerichtet ist der Flug der Gänse.
  8. Das Pferd steckt voller Energie und Tatendrang, den es aktiv zu einem Ausdruck bringt.
  9. Der Kolibri fliegt von Blüte zu Blüte, um sie zu bestäuben und den Nektar zu schlürfen. Er schafft den Ausgleich und die verbindende Ordnung zwischen all den anderen Wesen.

In der Abbildung sind neun Tiere dargestellt mit unterschiedlichen Wesenskernen.  Die Tiere bringen ihren Wesenskern durch instinktive Programme zum Ausdruck, die ihr Aussehen und ihr Verhalten maßgeblich bestimmen. Dabei sind Tiere einer Art alle durch dasselbe Programm geprägt. Sie haben diese Programme quasi von Geburt an und „kommen aus dieser Nummer nicht mehr raus“.

Wie können wir Menschen wesentlich werden?

Im Gegensatz zu den Tieren ist unser menschliches Verhalten nicht oder zumindest viel weniger durch instinktive Programme geprägt. Stattdessen haben wir unser Bewusstsein, dass es uns ermöglicht, die verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften gezielt aufzugreifen und für unseren Zweck zu einem Ausdruck zu bringen. Doch diese Fähigkeiten haben wir nicht von Geburt an. Wir haben sie zu lernen, indem wir uns die Eigenschaften bewusst machen und sie dann in den täglichen Situationen immer weiterentwickeln und freier zu einem Ausdruck zu bringen.

Dabei haben auch wir Menschen einen Wesenskern – also eine Persönlichkeitseigenschaft, die uns maßgeblich prägt. Doch im Gegensatz zu den Tieren einer Art, können verschiede Menschen unterschiedliche Wesenskerne haben: dem einen liegt es vielleicht besonders Klarheit zu schaffen, der andere kann gut Entscheidungen herbeiführen und diese würdevoll vertreten und der nächste lebt auf, wenn er etwas machen, etwas tun kann.

Doch der Wesenskern kommt oftmals gar nicht zu einem freien Ausdruck. Er ist überschattet durch unser Wissen, unsere Annahmen, Vorstellungen und Meinungen sowie durch die ganzen Anforderungen, die von außen an uns gestellt werden. Dabei empfinden wir unseren Wesenskern leicht als etwas Selbstverständliches, das keinerlei Beachtung verdient, oder auch durchaus als etwas Störendes, als eine Art triebhaften Zwang der unserer gestellten Aufgabe im Wege steht. In beiden Fällen treten wir unseren Kern regelrecht mit Füßen, unterdrücken ihn und richten uns stattdessen danach aus, was die Situation, das Umfeld und unsere eigenen Vorstellungen und Meinungen ‚erfordern‘. So sind wir uns unseres Wesenskerns, unseres inneren Wertes nicht wirklich bewusst.

Gleichzeitig liegen unsere inneren Wesen oft in einem Wettstreit. Uns fehlt die führende Ordnung, mit der wir unsere Umwelt wahrnehmen und unser Handeln ausrichten können. So wissen wir oft gar nicht, was in einer Situation angebracht ist: Ist etwas zu klären, zu machen, zu entscheiden, sind Ziele festzulegen oder ist etwas genauer zu erfassen…. Unsere inneren Wesen führen einen Wettstreit, der uns lähmt. Als Folge fühlen wir uns erschöpft und unsere Vorhaben bleiben unerledigt liegen.

Aber wie können wir unseren Wesenskern entdecken? Wie können wir ihn befreien? Wie können wir den Kern aufgreifen und bewusst zu einem Ausdruck bringen? Die einzelnen Wesen durch eine bewusste Führung nach dem Wesenskern ausrichten? Unsere Wesen zähmen, dass sie sich nicht in einem Wettstreit verausgaben, sondern in einem konstruktiven Miteinander zusammenwirken, um die täglichen Situationen erfolgreich zu gestalten?

Um unseren Wesenskern zu ermitteln, haben wir uns zu fragen: Was sind meine Interessen, Neigungen und Fähigkeiten? Was macht mir Spaß? Bei welchen Tätigkeiten lebe ich auf? Was geht mir leicht von der Hand? Die Antworten geben uns Hinweise auf unseren Wesenskern, auf unsere Identität, auf unsere innere Sehnsucht, auf das, was wir als Person in unserem Leben zum Ausdruck bringen wollen.

Um den eigenen Wesenskern zu erkennen, kann es sehr hilfreich sein, sich Tiere mit ihren entsprechenden Eigenschaften anzuschauen, die die verschiedenen Wesenheiten besonders klar zum Ausdruck bringen. Und über das Tier, das unseren eigenen Eigenschaften am ehesten entspricht, kommen wir dann zu einer Vorstellung unseres Wesenskerns.

Der Wesenskern bestimmt „Was“ ich in meinem Leben aufgreife und zu einem Ausdruck bringen will. Um dieses „Was“ zu erreichen, braucht es die Unterstützung der anderen Wesen, der anderen Persönlichkeitseigenschaften. Sie bestimmen „Wie“ ich das „Was“ erreiche. Dafür sind die einzelnen Wesen auf das „Was“ auszurichten. Bei jedem der Wesen kann ich mir ganz gezielt die Frage stellen: Wie möchte ich dieses Wesen gestalten, damit es meinen Wesenskern gut zu einem Ausdruck bringt?

Hat zum Beispiel jemand den Wesenskern „Klarheit schaffen“, dann richtet er danach seine anderen Persönlichkeitseigenschaften aus. Wenn es etwa darum geht eine Orientierung zu erlangen, betrachtet der Klarheit schaffende Mensch die Situation eingehend und genau. Er stellt dabei immer neue Fragen, bis er ein klares ein umfassendes und genaues Bild von der Situation erlangt hat. Ein Mensch mit einem anderen zentralen Wesen verschafft sich die Orientierung mit einer anderen Fragestellung. Betrachtet zum Beispiel ein Mensch die Situation mit dem Wesen „Machen“, dann nimmt auch dieser die Situation mit unvoreingenommener Neugierde und Interesse war. Doch richtet er das Interesse anders aus. Stellt andere Fragen: Wo gibt es hier für mich etwas zu tun? Wo kann ich hier helfen?

In diesem Sinne lässt sich jedes der einzelnen Wesen nach dem Wesenskern ganz spezifisch ausrichten. Und machen wir das für alle Wesen, dann sind wir uns unseres Wesenskerns bewusst. Dann bringen wir ihn auf authentische Weise zum Ausdruck.

In der folgenden Abbildung wird dieser Zusammenhang dargestellt:

Im Zentrum des Bildes steht der Wesenskern und drum herum sind die verschiedenen anderen Wesen dargestellt, die nach dem Wesenskern ausgerichtet werden. Der große umfassende Kreis beschreibt die verbindende Ordnung, die das Zusammenwirken der einzelnen Wesen koordiniert.

Das Wesentliche zum Ausdruck bringen

Und wie bringen wir jetzt unseren Wesenskern in den täglichen Situationen zum Ausdruck? Dafür fragen wir uns: was ist das Wesentliche in der Situation? Und haben wir auf diese Frage eine Antwort gefunden, dann entwickeln wir eine Lösung, die dieses Wesentliche zu einer Lösung bringt. Dafür finden wir Ideen, kommen zu einem Entschluss, welche Idee weiterverfolgt wird, klären die Idee zu einer Lösung, die wir weitervermitteln, um dann konkrete Ziele formulieren zu können, die dann umgesetzt werden.

Daraus resultiert ein Prozess, der in der folgenden Abbildung dargestellt ist. Er beginnt in dem inneren der Spirale – sozusagen in der enge der Ausgangssituation – und entwickelt sich hinaus zu der neu gestalteten Situation. Der Prozess ist in 5 Phasen eingeteilt, die jeweils eine übergeordnete Frage zur Antwort gebracht wird.

In den einzelnen Prozessschritte sind die unterschiedlichsten Persönlichkeitseigenschaften gefragt, die durch die verschiedenen Wesen bestimmt sind. So richtet der Prozess die unterschiedlichen Wesen aus zu einem konstruktiven Zusammenwirken, um ein passendes Resultat zu erreichen.

  1. Mediator: Kontakt aufbauen/Beziehung herstellen, thematische und vermittelnde Führung
  2. Beobachter: Offenheit, Unvoreingenommenheit, Neugier, die Situation erfassen
  3. Forscher: Situation analysieren, hinterfragen, prüfen, detektivischer Spürsinn, Bedarf ermitteln
  4. Erfinder: Spontaneität, Intuition, Ideen entwickeln, Impulse geben, lebhafte Fantasie.
  5. Entscheider: Vor- und Nachteile herausstellen, rational abwägen, Entschluss herbeiführen
  6. Problemlöser: visionäre Vorstellungen auf das Machbare herunterbrechen, schlüssige Lösungswege ausarbeiten
  7. Vertreter: Ideen bekannt machen, andere begeistern, Verbesserungsvorschläge begrüßen
  8. Planer: Zielvorgaben formulieren, Realisierungsschritte erarbeiten, Umsetzungsschritte vorzeichnen
  9. Macher: Ziele aufgreifen, Pläne anwenden, praktische Umsetzung ausführen
  10. Feiernde: Freude und Dankbarkeit zeigen, wenn das Ziel erreicht ist

In dem Prozess wird das Wesentliche einer Situation ergründet und zu einer Lösung gebracht. Und ist es den Beteiligten mit der Ausrichtung auf das Wesentliche wirklich ernst, dann wird dabei vieles Unwesentliche überflüssig, wir können es loslassen und haben damit den Platz geschaffen, um etwas wirklich Neues zu etablieren. So beschreibt der Prozess einen allgemeinen Veränderungsprozess.

Gleichzeitig schaffen wir durch die Ausrichtung auf das Wesentliche eine Verbindung zum Miteinander: wenn alle Beteiligte die Sehnsucht teilen, das Wesentliche zu einem Ausdruck zu bringen, dann werden sie bereit, sich für das gemeinsame Ziel mit ihren eigenen Fähigkeiten zu engagieren und dabei treten die ganz individuellen Meinungen und Ansichten über die Situation mehr und mehr in den Hintergrund. Durch den konstruktiven Austausch, in dem die unterschiedlichen Meinungen und Ansichten zu einer verbindenden Lösung gebracht werden, wird das erzielte Resultat attraktiv und tragfähig.

Der Prozess hat vielfältige Anwendungen: sei es als sozialer Prozess zum Beispiel in der Mediation, der Therapie, Beratung oder Seelsorge aber auch als Entwicklungsprozess, als Innovationsprozess oder Problemlösungsprozess in einem mehr technischen Umfeld – oder ganz allgemein als Gesprächsführungsprozess, um das Miteinander konstruktiv zu gestalten.

Fazit

Wenn wir uns unseres Wesenskerns bewusst sind und wir uns mit diesem in den Veränderungsprozess einbringen, stärken und entwickeln wir mehr und mehr unsere unterschiedlichen Persönlichkeitseigenschaften. Wir werden immer freiere Menschen, die ihren Wesenskern in die täglichen Situationen immer bewusster einbringen. Dabei tritt der treibhafte Wille, unsere Affekte mehr und mehr in den Hintergrund. Schließlich werden wir zu eigenständigen Menschen, zu Frauen und Herren unseres Tuns. Und dabei entwickeln wir zugleich bereichernde, attraktive und tragfähige Lösungen für unsere täglichen Fragen und Probleme.