Schön und gut, doch wie können wir dieses Ideal in unserem Leben verwirklichen? Betrachten wir ein konkretes Beispiel:
Der Gartenteich
Zahlreiche Gartenbücher und Kataloge diverser Gärtnereien inspirieren meinen Vater bei der Gestaltung seines Gartens. Auch kann er an keinem Kiosk vorbeigehen, ohne eine Gartenzeitschrift zu erstehen. Gelegentlich schaue ich auch in die Hefte hinein, insbesondere wenn sie einen Beitrag über Gartenteiche enthalten. Denn einen Teich will ich schon lange im Garten haben! Allerdings gilt es erst einmal, meinen Vater davon zu überzeugen. Er hält nicht viel von der Idee.
Nach einigem Hin und Her gesteht er mir widerwillig einen kleinen Teich zu. Dafür markiert er an einem schattigen Plätzchen, ganz am Rand des Gartens, eine kleine Fläche, indem er unreif vom Baum gefallene Äpfel den Umriss eines möglichen Teiches kennzeichnet. Ein Gartenteich braucht aber einen sonnigen Platz, und je größer ein Teich ist, desto besser entwickelt sich auch sein ökologisches Leben! Also zeichne ich mittels der Äpfel einen großzügigeren Umriss mitten auf dem Rasen.
Am nächsten Morgen sind die Äpfel wieder verschoben und der Umriss ist deutlich geschrumpft.
Unverdrossen vergrößere ich die Teichfläche wieder …,
… worauf mein Vater seinerseits die Ausmaße wieder verkleinert.
Das Spielchen geht eine ganze Weile. Doch langsam gewöhnt sich mein Vater an den Gedanken, den Teich mitten auf dem Rasen anzulegen, an der sonnigsten Stelle des Gartens. Und langsam nehme ich Abschied von meiner Vorstellung, den Teich recht groß anzulegen.
Schließlich einigen wir uns, den Teich kreisrund anzulegen, mit einem Durchmesser von exakt zwei Metern, platziert mitten auf der Rasenfläche.
Wir beginnen mit dem Spaten und tragen die dünne Humusschicht ab. Dann treiben wir das Loch mit Hacke und Steinhammer tiefer in die Kalkschicht. Anschließend legen wir die Folie aus. Dann bepflanzen wir die äußere Sumpfzone mit Wasseriris, Rohrkolben und Sumpfdotterblume, und an die tiefste Stelle setzen wir eine Seerose. Hornkraut und Wasserpest sollen das Algenwachstum in Grenzen halten und das Wasser klären. Zuletzt heißt es: Wasser marsch, bis sich der Teich gefüllt hat.
Mein Vater und ich sitzen in der Sonne und bewundern den Teich. Es wird noch eine Weile brauchen, bis er so richtig in Schwung kommt, aber das Ergebnis ist jetzt schon zufriedenstellend.
„Ich finde es toll, dass du dich darauf eingelassen hast“, sage ich dankbar zu meinem Vater.
„So ein Teich ist ja doch eine feine Sache, aber etwas größer hätte er ruhig sein können!“, erwidert er prompt, und wir müssen laut lachen.
Nehmen wir das Beispiel unter die Lupe
Worum geht es in dieser Geschichte? Um den Bau eines Gartenteichs. Dabei ist das Wesentliche in der Situation, meinen Wunsch nach einem Gartenteich zu verwirklichen, meinem Willen einen eigenständigen Ausdruck zu geben. So ist das zugehörige Wesen die Eigenständigkeit. (zur Definition der Wesen siehe: Das Wesen zum Ausdruck bringen)
Doch bevor es an das Ausschachten und Bepflanzen ging, war erst einmal mein Vater von dem Teich zu überzeugen, denn ich möchte einen Teich, mein Vater hingegen will keinen oder wenn nur einen kleinen Teich.
Jetzt können wir über unsere unterschiedlichen Vorstellungen natürlich heftig debattieren, uns streiten und in die Wolle kriegen. Doch das bringt uns nicht wirklich zu dem erwünschten Ziel. Stattdessen haben wir eine gemeinsame Vorstellung entwickelt, wie denn der Teich aussehen soll. Doch der Entschluss wird erst nach zähen Verhandlungen, nach langem Hin- und Herschieben der Äpfel erreicht. Aber als die gemeinsame Vorstellung geschaffen war, konnte der Teich weiter ausgehoben und bepflanzt werden. Schließlich war das Resultat für uns beide in Ordnung. Dabei entstand die Ordnung auf drei Ebenen:
- Zuerst haben mein Vater und ich durch das Hin- und Herschieben eine gemeinsame Vorstellung entwickelt, wie der Teich aussehen soll. Eine Vorstellung, die für uns beide passt.
- Dabei wurde jedem von uns beiden bewusst, was wir in der Situation wirklich wollen, wie für uns ein attraktiver Teich aussehen kann. Sowohl mein Vater als auch ich konnten einen klaren Standpunkt beziehen und unsere weiteren Tätigkeiten des Ausschachtens und Bepflanzens gezielt danach ausrichten.
- Und zu guter Letzt wurde eine Ordnung für die gesamte Situation geschaffen – denn als der Teich fertig war, wirkte er als Bereicherung für den Garten und für die Betrachter, die sich an dem Wasser, den Pflanzen, den angelockten Tieren und ihrem Zusammenspiel erfreuen.
Dabei entwickelt sich die Ordnung in einem eng verzahnten Zusammenspiel auf diesen drei Ebenen. Und wenn alles gut zusammenpasst, dann erfüllt uns ein verbindendes Einheitsgefühl, eine Harmonie. Gleichzeitig erfüllt uns eine freudige Heiterkeit, wenn wir sehen, wie unsere geschaffene Vorstellung in die Realität gebracht ist, wie sich alles fügt und zusammenspielt, wie sich unsere Mühen gelohnt haben. Das Gefühl, das uns dabei erfasst, das ist Liebe! (siehe auch: Über die Kunst des Liebens).
Und unsere unterschiedlichen Vorstellungen? Nun, die wurden durch die Ausrichtung nach dem Wesentlichen überwunden – also nach der Frage: Wie soll der Teich aussehen?
Oder anders ausgedrückt: Indem wir für das Wesentliche in der Situation eine attraktive Vorstellung entwickeln und im Weiteren verwirklichen, entsteht eine verbindende Ordnung aus der Liebe und Heiterkeit resultieren und Meinungsverschiedenheiten sich auflösen.
Der Unterschied zu Kompromissen
Jetzt mögen Sie sagen: schön und gut, doch was soll das ganze Theater? Ist der kreisrunde Teich nicht einfach ein gelungener Kompromiss? Das ist doch einfach eine vernünftige Lösung!
Der Kompromiss geht von den Positionen aus – von dem kleinen Teich am Gartenrand und der großzügigen Teichlandschaft mitten im Rasen – und versucht dafür eine verbindende Lösung zu finden. Doch dabei haben beide Seiten Opfer hinzunehmen. Beide können ihre Vorstellung nicht wirklich verwirklichen. Mein Vater würde sich bei einer festgelegten Kompromisslösung ewig ärgern, dass es den Teich überhaupt gibt, und ich würde weiter von der großzügigen Teichlandschaft träumen.
Doch weder mein Vater noch ich haben den runden Teich als Kompromisslösung angesehen, die irgendwie vernünftig ist und bei dem jeder Zugeständnisse hinzunehmen hat. Sondern der runde Teich bringt unsere Vorstellung zum Ausdruck, was wir beide wirklich wollen, wie der Teich für uns beide attraktiv ist. Um diese gemeinsame Vorstellung zu entwickeln, haben wir die Äpfel solange hin- und hergeschoben, bis es für uns wirklich passte.
Fassen wir das Vorgehen zusammen:
Wir können unser Leben bereichern, indem wir uns in einer Situation nach dem Wesentlichen ausrichten und dafür eine attraktive Lösung schöpfen. Als Resultat entsteht eine Ordnung, die Liebe und Heiterkeit, die eine Fülle im Leben schafft.
Betrachten wir die einzelnen Schritte nochmal genauer:
Erkenne das Wesentliche
Das Wesentliche ist die prägende universelle Gesetzmäßigkeit in einer Situation. (Zur Definition des Wesentliche und der Wesen siehe den Artikel: Das Wesen zum Ausdruck bringen). Um dem Wesentlichen auf die Schliche zu kommen, ist die konkrete Situation interessiert und unvoreingenommen zu betrachten. Dabei sind die gewonnen Resultate mit unseren geschaffenen Vorstellungen für die unterschiedlichen Arten des Wesentlichen abzugleichen, bis das zentrale Wesentliche in der vorliegenden Situation herausgearbeitet ist. Und haben wir das Wesentliche klar auf den Punkt gebracht, so inspiriert es uns und wir finden neue Ideen, wie wir das Wesentliche in der Situation zu einem Ausdruck bringen können.
Es ist wie bei einem Arzt, wenn er eine Diagnose stellt. Ausgehend von den Symptomen gleicht der Arzt den Untersuchungsbefund mit verschiedenen Krankheitsbildern ab und erwägt weitere Untersuchungen, bis er die Ursache des Übels identifiziert hat und die Heilung einleiten kann.
Schaffe eine attraktive Lösung
Die gefundene Idee ist in ihrer Natur meistens noch recht visionär und unpräzise. Wir haben die Idee weiter aufzugreifen, sie zu konkretisieren und zu klären, bis ein tragfähiges und attraktives Lösungsbild geschaffen ist. Dafür werden auftretende Zweifel, Fragen und Unklarheiten aufgegriffen und geklärt, wodurch das Lösungsbild immer umfassender, präziser und damit attraktiver wird – solange bis die Idee schließlich bis in das Machbare konkretisiert ist. Es ist wie bei einem Puzzle, wo die Beteiligten ihre Ansichten als grobe Puzzleteile einbringen, die dann im Miteinander weiter angepasst und geformt werden, so dass sie sich in das entstehende Lösungsbild nahtlos einfügen. (Zum Vorgehen siehe auch den Artikel: Schöpferisches Sein).
Ist für die Lösung ein klares Vorstellungsbild geschaffen, so ist dieses im nächsten Schritt in die Realität zu bringen. Dafür sind konkrete Ziele für die Umsetzung zu formulieren und diese zu verwirklichen.
Ordnung, Liebe, Heiterkeit
Bei dem Vorgehen entsteht eine Ordnung. Diese umfasst jede der einzelnen Personen, ihr Miteinander sowie die gesamte Situation. Dabei entsteht ein Harmoniegefühl – die Liebe. Und zugleicht erfasst uns eine Heiterkeit, wenn wir feststellen wie durch die realisierte Lösung die ursprünglichen Probleme und Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt sind. Somit sind Liebe, Heiterkeit und Fülle im Leben das Resultat, das sich einstellt, wenn wir in einer Situation für das Wesentliche eine attraktive Lösung schaffen.
Knackpunkte und Fallstricke
Jetzt klingt das ja alles ganz einfach. Doch fragen wir uns: was ist der Knackpunkt in diesem Vorgehen? Was steht dem gewünschten Erfolg häufig im Wege?
- Zuerst brauchen wir die Bereitschaft, die vorliegende Situation unvoreingenommen zu betrachten, mit Interesse und immer wieder aus neuen Perspektiven. Das gelingt allerdings nur, wenn wir einen gewissen Abstand zu der Situation haben, ohne zu sehr emotional in ihr gefangen zu sein.
- Dabei versuchen Sie bitte nicht gleicht die Welt aus den Angeln zu heben. Seien Sie bescheidener. Fangen Sie lieber an mit einer kleinen überschaubaren Aufgabe in ihrem unmittelbaren Umfeld. Machen Sie und lassen Sie sich von Rückschlägen und auftretenden Misserfolgen nicht ins Boxhorn jagen.
- Mit den ersten Erfolgen wächst das Selbstvertrauen in die eigenen Schöpferkräfte. Dann können wir die nächste, durchaus etwas größere Aufgabe in Angriff nehmen.
- Allzu oft stehen wir uns bei dem Erreichen unserer Ziele selbst im Weg. Dann machen wir nicht das, was die Situation erfordert, sondern das, was wir meinen. Doch häufig sind wir dann gefangen in unseren eigenen Vorstellungen. Dann führt der Wille nur zu Verkrampfungen und Konflikten.
Fazit:
Das Wesentliche, die grundlegende universelle Gesetzmäßigkeit in einer konkreten Situation, bildet in gewisser Hinsicht das Fundament, auf dem wir Menschen im Miteinander ein stabiles Haus errichten können. Doch fehlt das Fundament, fehlt die Ausrichtung nach dem Wesentlichen, dann sind unsere Mühen meistens vergebens. Dann wird das Haus bestenfalls ein Hüttchen, das bei dem ersten Windstoß zusammenfällt.
Die Guten Gespräche sind die Methode, um das vorgestellte Ideal im Miteinander ins Leben zu bringen.