Schön gesagt, doch wie können wir Menschen im Miteinander Werte schaffen, so dass dabei eine Ordnung, ein erfülltes Leben entsteht? Tiere machen das instinktiv, etwa durch ihre „Schwarmintelligenz“. So ordnen sich die Kraniche immer zu einer V-Formation, wenn sie in den Süden fliegen. Das Fliegen im gegenseitigen Windschatten ermöglicht es ihnen, viel kräftesparender zu fliegen, als wenn sich jeder Vogel für sich alleine auf den Weg macht. Die Vögel folgen dabei einem instinktiv angelegten Programm. Wir Menschen hingegen können uns nicht auf unsere instinktiven Programme verlassen. Doch wir haben unser Bewusstsein. Wir können uns selbst auf eine Situation einlassen, uns weiter fragen: Was wollen wir in der Situation? und im Weiteren eine Lösung für dieses Bedürfnis entwickeln. Betrachten wir folgende Geschichte:
Himmel und Hölle
Einst kam ein Mann zum Propheten Elias. Ihn bewegte die Frage nach Himmel und Hölle, denn er wollte seinem Leben einen Sinn geben.
Da nahm ihn der Prophet bei der Hand und führte ihn durch dunkle Gassen in einen großen Saal. In der Mitte des Saals stand ein großer Kessel, in dem eine köstlich duftende Suppe brodelte. Neben dem Kessel lagen gusseiserne Löffel. Als eine Gruppe hungriger Menschen in den Saal trat, griff jeder sofort nach einem Löffel. Doch sie mussten feststellen, dass die Löffel für sie viel zu schwer, zu lang und zu unhandlich waren, um sie zu heben, um damit die Nahrung zum Mund führen zu können. Da wurden die hungrigen Menschen wütend. Sie fingen an zu schimpfen, und als ihr Hunger, ihre Verzweiflung größer wurde, begannen sie, sich zu prügeln.
Da fasste Elias seinen Begleiter am Arm und sagte: „Siehst du, das ist die Hölle.“
Die beiden verließen den Saal und traten bald in einen anderen. Auch in diesem Saal stand ein Kessel mit Suppe und daneben lagen die großen Löffel. Und auch in diesen Raum trat eine Gruppe hungriger Menschen, die sofort nach den Löffeln griffen. Auch sie merkten, dass die Löffel unhandlich und schwer waren. Doch einer sagte zu seinem Nachbarn: „Komm hilf mir, der Löffel ist für mich allein viel zu schwer. Ich kann ihn gar nicht heben. Doch zu zweit kriegen wir das sicher hin.“ Und zusammen tauchten sie den Löffel in den Kessel. Gemeinsam schöpften sie die begehrte Suppe. Doch als sie den Löffel zum Mund führen wollten, stellten sie fest: „Der Löffel ist viel zu groß. Wir können ihn gar nicht zu unserem Mund führen. Wir können die Suppe gar nicht essen.“ Keck sprang ein Dritter ein und forderte die beiden auf: „Kommt füttert mich!“ Gesagt, getan. Als die anderen das sahen, fingen sie auch an, gemeinsam die Löffel in die Suppe zu tauchen und sich gegenseitig zu fütterten. Dabei wechselten sie sich in ihren Rollen ab, jeder fütterte mal und wurde mal gefüttert. So wurden alle satt. Der Saal war erfüllt von dem freudigen Summen angeregter Unterhaltung.
Und der Prophet Elias sagte zu seinem Begleiter: „Siehst du, das ist der Himmel.“
Sehen wir uns die Geschichte nun genauer an:
In der Hölle ist jeder der hungrigen Menschen auf sich allein gestellt. Jeder hat das Bedürfnis, satt zu werden. Dieser Wille ist die treibende Kraft. Der Wille veranlasst die Personen zu ihrem Handeln. Doch je mehr die Hungrigen merken, dass sie ihr Ziel mit eigenen Mitteln nicht erreichen können, umso mehr verkrampfen sie sich in ihrem Willen, sie werden wütend und betrachten die Mitmenschen als ihre Feinde. Das Miteinander verhärtet sich immer mehr, bis es in eine handgreifliche Streiterei ausartet. Dabei verlieren die hungrigen Menschen ihr eigentliches Bedürfnis – nämlich satt zu werden – völlig aus den Augen.
Und im Himmel? Auch da sind die Menschen hungrig. Auch sie haben das Bedürfnis satt zu werden. Doch sie treten über ihren reinen Willen – satt zu werden – hinaus und fragen sich: Wie kriege ich das hin? Sie erkennen, dass sie die Hilfe der anderen benötigen. Einander zu helfen, sich gegenseitig zu unterstützen und sein Handeln darauf auszurichten, ist die gebotene Strategie in dieser Situation. Sie führt zum gemeinsamen Gestalten, zum gemeinsamen Tun. Es weist den Weg ins Miteinander. Und im Miteinander finden die Hungrigen eine passende Lösung. Schließlich werden alle satt. Dieser Weg – also die Art des gegenseitigen Fütterns und Gefüttert-Werdens – ist der Wert, der in der Situation geschaffen wird. Indem alle Beteiligten ihr Handeln nach diesem Wert ausrichten, entsteht eine neue Ordnung.
Das Erschaffen eines neuen gemeinsamen Wertes ähnelt dem Schleifen eines Diamanten: Der Rohdiamant macht noch wenig her, doch durch das Feilen, Schleifen und Polieren fängt der Diamant schließlich an zu strahlen. Der Wert des Diamanten tritt zutage. Ebenso stellt eine gemeinsam entwickelte Lösung einen Wert an sich dar, der die konkrete Situation in einem neuen Licht erstrahlen lässt, der eine neue Ordnung schafft. Dabei entsteht die neue Ordnung in drei Ebenen:
- Die Beteiligten gelangen selbst zu einer inneren Ordnung. Jedem einzelnen wird bewusst, was er in der Situation wirklich will, was ihm wichtig ist. So kann jeder einen klaren Standpunkt beziehen und vertreten.
- Es wird eine Ordnung für das Miteinander geschaffen. Die Beteiligten treten in einen konstruktiven Austausch. Dabei beziehen sie nicht nur ihre eigenen Positionen, in dem Miteinander entstehen auch neue Perspektiven, neue Möglichkeiten. Zusammen schöpfen sie einen Wert und jedem wird dabei bewusst, was sie im Miteinander eigentlich wollen.
- Durch den neu geschaffenen Wert wird eine neue Ordnung für die gesamte Situation geschaffen. Die Situation wird neu ausgerichtet und gestaltet, so dass es für jeden der Beteiligten passt.
Im kooperativen Miteinander entwickelt sich die neue Ordnung auf diesen drei Ebenen in einem eng verzahnten Zusammenspiel. Schließlich fügen sich die Ebenen zu einem verbindenden Ganzen zusammen. Dann erfüllt und trägt uns ein Einheitsgefühl – es entsteht Harmonie. Als Resultat entstehen Synergien – gemeinsam geschaffene Lösungen, die mehr sind als die Summe der isoliert betrachteten Beiträge der einzelnen Personen.
Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Frage nach dem „Wie“, die für die konkrete Situation spezifisch beantwortet wird: „Wie“ können wir das „Was“, das uns in einer Situation unter den Nägeln brennt, zu einer guten Lösung bringen? Das „Wie“ ebnet den Weg zur Lösung und schafft gleichzeitig die Verbindung ins Miteinander, bei dem wir dann unsere verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften einbringen können, die sich ergänzen und unterstützen. Dabei ziehen alle an einem Strang.
Wir schaffen so eine neue Kultur des Miteinanders – indem wir im Miteinander beständige Werte für unsere alltäglichen Fragen erschaffen, die jeden der Beteiligten aufbauen, die eine gemeinsame Perspektive für die konkreten Situationen entwickeln und diese neu ausrichten und bereichern, die eine neue, tragende und befreiende Ordnung etablieren und mit denen wir das Gewinner-Verlierer Denken überwinden. Die Guten Gespräche sind hierfür das Mittel.