Das Versöhnungsgespräch
Xanthippe und Sokrates leben zwar schon lange glücklich im Himmel, aber die meisten Jahre jeder für sich allein. Zu viele schlechte Erinnerungen verbanden die beiden mit ihrem gemeinsamen Leben auf der Erde, und all die Nachreden der Philologen, Philosophen und Historiker, die bis zum heutigen Tag wirken, verbesserten ihre Lage auch nicht gerade. Irgendwann hegten beide, jeder auf seine Art, den Wunsch, sich zu versöhnen:
Sokrates: Nun bin ich ein hoch geachteter Philosoph, und meine Art der Gesprächsführung ist richtungsweisend bis zum heutigen Tage. Die Welt dankt es mir, und ich werde verehrt. Nur, ein ordentliches Gespräch mit Xanthippe ist mir nie gelungen. Während ich mit ihr im Streit lag, sprach ich mit meinen Schülern über die großen Dinge, über Philosophie und Politik. Wie gerne hätte ich auch zu Hause, mit meiner Frau, Gespräche darüber geführt und unser gemeinsames Leben zusammen mit ihr gestaltet. Stattdessen hat sie es für mich zur Hölle gemacht, und ich musste immer in die Stadt hinaus, um in den Genuss guter Gespräche zu kommen. Ich war ein Getriebener, damals, aber vielleicht sollte ich jetzt doch einmal das Gespräch mit ihr suchen. Vielleicht können wir hier, im Himmel, befreit von all den weltlichen Zwängen, tatsächlich miteinander reden …
Xanthippe: Sokrates führte so gerne geistreiche Gespräche mit seinen Schülern. Mit den Athener Bürgern schwatzte er voller Freude über dies und das und amüsierte sich. Es ist so schade, dass er sich ausgerechnet mit mir nie gut unterhalten hat. Für meine Belange im Haus und für die Kinder hat er sich nie interessiert, und das hat mich immer sehr geärgert. Wenn ich mich beklagte, kam keine Antwort von ihm. Stattdessen ging er gleich wieder fort. Ich hätte mich so gerne einmal richtig ausgetauscht mit ihm. Vielleicht wäre jetzt, wo wir befreit sind von weltlichen Zwängen, eine bessere Gelegenheit dazu? …
In den beiden entwickelten sich die Sehnsüchte – die sie in ihrem irdischen Leben bereits fühlten, denen sie aber niemals folgten – über die vielen Jahre im Himmel weiter. Sie wurden sogar intensiver, doch aus alter Gewohnheit folgten sie ihnen weiterhin nicht – bis sie sich eines Tages auf derselben Wolke trafen und einander nicht mehr ausweichen konnten.
Sokrates: Hallo, Xanthippe! Wie geht es dir? Wir haben uns ja so lange nicht gesehen.
Xanthippe: Ja, es ist schon einige Hundert Jahre her. Hast du etwas Zeit? Lass uns in der Taverne, da vorne an der Ecke, einen Kaffee trinken.
Sokrates: Sehr gerne! Das haben wir in unserem irdischen Leben nie gemacht!
Xanthippe: Stimmt, wir haben nie etwas wirklich nur für uns gemacht. Ich war an Haus und Kinder gebunden, und du hast dich in der Stadt herumgetrieben.
Sokrates: Oh, ich hätte schon sehr gerne mit dir geredet und überlegt, wie wir unser gemeinsames Leben hätten schöner machen können.
Xanthippe: Ach so, und anstatt mit mir zu sprechen, bist du immer zu deinen Freunden gerannt?
Sokrates: Na ja, freiwillig wohl nicht, denn meist fühlte ich mich von dir vertrieben.
Xanthippe: Vertrieben? Oder wolltest du dich nur nicht in die Hausarbeit einspannen lassen oder um die Kinder kümmern?
Sokrates: Das blieb alles an dir hängen, nicht wahr?
Xanthippe: Richtig! Während du deinen schöngeistigen Fragen nachgingst. Für die wirklich wichtigen Dinge im Leben fehlte dir jeder Sinn.
Sokrates: Schon, aber Philosophie bereichert nun mal das Leben.
Xanthippe: Mag sein, doch ich frage mich, ob es nicht zu den wesentlichen Aufgaben der Philosophie gehört, vor allem den Alltag sinnvoll zu bestreiten. Wer in die geistigen Sphären entflieht, um den täglichen Problemen zu entkommen, beweist nur, dass sein Philosophieren wirkungslos bleibt. Seine Gedanken blähen sich auf wie Seifenblasen und zerplatzen irgendwann.
Sokrates: Weißt du, ich möchte dir etwas vorschlagen: Wie wäre es, wenn wir jetzt damit beginnen, es besser zu machen? Wir könnten konkrete Fragen des Alltags philosophisch bereichern.
Xanthippe: Klingt gut! Aber, wo fangen wir da an?
Sokrates: Was für eine Frage! Bei den Gesprächen natürlich! Gespräche fördern ja gerade das Miteinander.
Xanthippe: Super! Lass uns bei unseren Gesprächen anfangen! Da habe ich großen Bedarf.
Sokrates: Wir könnten gemeinsam eine Gesprächsmethode entwickeln, mit der sich für die täglichen Fragestellungen im Miteinander gute Resultate erzielen lassen.
Xanthippe: Das klingt zwar sehr theoretisch, aber warum nicht? Dann haben wir ein gemeinsames Ziel, und außerdem scheint es mir eine wirklich lohnende Aufgabe zu sein, zumal die Menschen bis heute nicht besonders glücklich wirken, wenn sie miteinander reden.
Sokrates: So, wie wir damals. Lass uns deshalb bei uns beiden beginnen! Bevor wir daran denken, den Menschen auf der Erde zu helfen, sollten wir erst selbst erfolgreich sein.
Xanthippe: Prima Idee! Und dann, wenn es uns gut gelingt, erweitern wir den Kreis und schlagen die Methode auch den Menschen vor. Wir haben hier, im Himmel, die idealen Voraussetzungen dafür, verglichen mit der streitgeschwängerten und konfliktgetränkten Atmosphäre da unten …
Sokrates: Wir haben viel zu tun!
Xanthippe: Auf geht’s!
Die Versöhnung von Xanthippe und Sokrates:
- Die Ausgangssituation
- Das Versöhnungsgespräch
- Analyse des Versöhnungsgesprächs
- Der Gesprächsprozess
- Der Aufruf