Was will ich? Klar, ein gutes Leben führen! Satt werden, gesund sein, fit sein, eine gesicherte Existenz, ein gutes Auskommen, materieller Wohlstand, und so weiter. Und wie gelingt uns das? Nun, dafür werden wir als Kinder erzogen, lernen in der Schule und später im Beruf. Aber auch unsere Freunde und Bekannten sowie die Medien tragen dazu bei, dass wir immer mehr Wissen, immer mehr Meinungen, Vorstellungen und Ansichten ansammeln.
Unsere Meinungen und Ansichten verzerren unsere Wahrnehmung
Und diese Meinungen, Ansichten und Vorstellungen, die wir in der Vergangenheit gesammelt haben, bringen wir in die aktuellen Situationen ein, um sie entsprechend auszurichten. Doch so ist das entstehende innere Bild, das wir uns von einer Situation machen, gewissermaßen nicht ganz frisch – denn einerseits nehmen wir das äußere Bild zwar wahr, überlagern es jedoch mit unseren eigenen Erfahrungen aus der Vergangenheit, wodurch unser wahrgenommenes, inneres Bild verzerrt wird und nur eingeschränkt mit den tatsächlichen Gegebenheiten übereinstimmt.
Wenn wir jetzt im Miteinander eine Lösung für die Situation finden wollen, dann hat jeder sein eigenes verzerrtes Bild von der Situation im Kopf, mit dem er sich identifiziert und das er durchsetzen will. Stimmen jetzt die inneren Bilder der beteiligten Personen gut überein, dann ist die Welt zwischen ihnen im wahrsten Sinne des Wortes in Ordnung und sie verstehen sich prächtig. Sind die inneren Bilder jedoch sehr verschieden, so führt das häufig zu heftigen Diskussionen, die durchaus in Streitigkeiten ausarten können.
Und dabei geht es oft gar nicht mehr darum, ein möglichst realistisches Bild von der Situation zu erfassen, sondern um das Durchsetzen der eigenen Vorstellung, die man sich über die Situation gemacht hat. Ja über unsere Vorstellungen diskutieren wir, dafür werden Argumente ins Feld geführt und Meinungen ausgetauscht. Dabei ist das angestrebte Ziel häufig ein Kompromiss, bei dem jeder von seiner Vorstellung Abstriche hinnehmen muss. Und ein Kompromiss gilt häufig dann als gerecht, wenn möglichst jeder der Beteiligten ein gleich großes Opfer zu akzeptieren hat. Ob die erzielte Kompromisslösung jedoch für die Situation eine möglichst gute und tragfähige Lösung bildet, das tritt oftmals in den Hintergrund und spielt mitunter gar keine Rolle mehr.
Doch wie geht es anders?
Die erste Voraussetzung ist, dass wir bereit werden die Situation möglichst genau so zu betrachten, wie sie wirklich ist, dass wir uns ein möglichst realistisches Bild von der Situation machen – also unabhängig von den bestehenden Meinungen, Ansichten und Vorstellungen. Und weiter haben wir uns zu fragen: Was wollen wir wirklich in der Situation? Was ist das wesentliche Bedürfnis, das in der Situation zu einer Lösung gebracht werden möchte?
Schön und gut, doch wie kommen wir dahin? Die seelischen Bedürfnisse weisen den Weg! Sie zeigen uns auf, was das Wesentliche in der Situation ist. Dabei sind neun seelische Bedürfnisse zu unterscheiden mit entsprechenden Tätigkeiten, um sie zu einer Lösung zu bringen:
Indem wir uns jetzt fragen: Welches seelische Bedürfnis ist das zentrale, das wesentliche in der konkreten Situation?, nehmen wir eine übergeordnete Position ein, von der aus wir die Situation betrachten, prüfen und wahrnehmen können. Doch die seelischen Bedürfnisse sind nicht direkt mit unseren Sinnen erfassbar. Sie wollen ergründet sein. Und damit die Spurensuche erfolgreich wird, brauchen wir klare Vorstellungen von den einzelnen Bedürfnissen – was sie ausmacht und wie sie zu einer Lösung gebracht werden können. Diese Vorstellungen leiten uns, damit wir das zentrale Bedürfnis in einer Situation ermitteln können. Und je klarer uns die Vorstellungen zu den einzelnen Bedürfnissen sind, umso leichter können wir sie in einer Situation identifizieren. Auf dem Weg dahin mögen die fiktiven Dialoge zwischen Xanthippe und Sokrates dazu eine erste Vorstellung bieten. Verwiesen sei auch auf den Artikel: Wie können wir seelische Bedürfnisse erkennen?
Das Vorgehen erinnert an das Stellen einer Diagnose beim Arzt. Damit die Ursache der Krankheit gut auf den Punkt gebracht werden kann, hat der Arzt während seiner Ausbildung Krankheitsbilder gelernt und sie in seiner späteren Arbeit weiter konkretisiert. Und diese Bilder leiten den Arzt bei seiner Untersuchung. Mit Ihnen kann er bei seiner Untersuchung gezielt vorgehen, bis er schließlich die Diagnose gestellt hat. Und je klarer dem Arzt diese Krankheitsbilder sind, umso sicherer kann er die Ursache der Krankheit aufspüren und umso erfolgreicher kann er die Heilung einleiten.
Und haben wir das wesentliche seelische Bedürfnis zu packen gekriegt, dann geht es im Weiteren darum, dafür eine Lösung zu entwickeln. Dabei ziehen alle Beteiligte an einem Strang. Denn das identifizierte Bedürfnis verbindet sie. Jeder will in der Situation das Bedürfnis zu einer tragfähigen und attraktiven Lösung bringen. Dafür bringt sich jeder bereitwillig mit seinen ganz individuellen Persönlichkeitseigenschaften in die Lösungsfindung ein. Und jeder ist bereit, bei seinen Beiträgen Zugeständnisse und Anpassungen hinzunehmen, denn die angestrebte gemeinsame Lösung hat für ihn einen höheren Stellenwert als die individuellen Einzelinteressen. Jeder fragt sich: was kann ich mit meinen Möglichkeiten zu einer möglichst guten Lösung beitragen? Das ganze Vorgehen ist geprägt durch ein freudiges und konstruktives Miteinander. Als Resultat entsteht eine bis ins Machbare konkretisierte Lösung, die das seelische Bedürfnis befriedigt, die Situation neu ausrichtet und gestaltet und die alle Beteiligte freudig und heiter stimmt.
So entsteht eine Lösung für das, was wir in der konkreten Situation wirklich wollen – und nicht für das, was irgendwelchen Vorstellungen oder Ansichten über die Situation entspricht.
Fazit
Die beiden Ansätze – die Ausrichtung des Vorgehens nach den individuellen Meinungen oder nach einem verbindenden seelischen Bedürfnis – erinnert mich an ein Gedicht von Manfred Burba:
Der Dichter und sein Leser Die Welt mit neuen Augen sehen, mit Text und Worten umzugehen, das ist des Dichters täglich Brot. Sich seinen eigenen Vers zu machen, auf all die Reim- und Prosasachen, das ist des Lesers liebe Not. Manfred Burba; Es duftet nach Sonntag S. 45, Dorante Edition, 2011
Jetzt bezieht sich das Gedicht auf das Schreiben bzw. Lesen von Gedichten. Wir können diese Art der Unterscheidung von Lesern und Dichtern aber auch ganz generell auf unsere täglichen Situationen übertragen:
Wenn wir uns nach den seelischen Bedürfnissen ausrichten, dann sind wir wie Dichter – wir treten über die bestehenden eigenen Ansichten hinaus, erfassen die Situation wie neu, identifizieren das wesentliche seelische Bedürfnis und schaffen dafür eine attraktive Lösung. So werden wir zu Gestaltern der Situation, zu Künstlern des Alltags.
Im Gegensatz dazu machen wir uns als Leser unsere eigenen Vorstellungen über eine Situation, über die bestehenden Gegebenheiten und richten unser Handeln danach aus. Wir reagieren auf die äußeren Ereignisse und arrangieren uns mit ihnen.
Wir können das Ganze mit einem Vogel in einem Käfig vergleichen:
Wenn wir uns nach unseren bestehenden Meinungen und Vorstellungen ausrichten, dann sitzen wir wie ein Vogel im Käfig. Wir picken unser Futter und machen es uns im Käfig möglichst bequem.
Wenn wir jedoch fragen: Was will der Vogel eigentlich? Was ist sein zentrales Bedürfnis? Dann kommen wir zu dem Punkt, dass der Vogel den Käfig doch hinter sich lassen möchte, dass er frei fliegen will. Und dann wird der Vogel nach jeder Gelegenheit Ausschau halten, wie er diese Freiheit erlangen kann.
Jetzt treffen wir in unserem Leben mal auf Situationen, in denen es angebracht erscheint, sich angepasst zu verhalten, während wir in anderen Situationen die Sehnsucht verspüren, unser seelisches Bedürfnis zum Ausdruck zu bringen. So ist jeweils zu schauen: Was ist in einer konkreten Situation angebracht? Wie habe ich mich zu verhalten? Und diese Entscheidung hat jeder für sich zu treffen.
Nur allzu oft treffen wir diese Entscheidung gar nicht bewusst, sondern richten unser Verhalten aus Gewohnheit nach den bestehenden Mustern aus. Doch dann wirkt dieses Gewohnte, dieses Bestehende oft wie eine Last, der wir uns mitunter gar nicht bewusst sind, die uns jedoch einschränkt und behindert. Dann kann die Ausrichtung nach dem seelischen Bedürfnis wie ein Befreiungsschlag wirken. Doch häufig können wir uns alleine gar nicht aufraffen, unser seelisches Bedürfnis in einer Situation aufzuspüren. Da ist ein Gesprächspartner hilfreich oder jemand, der uns einen passenden Stubbs gibt und uns auf unser eingeschränktes Verhalten aufmerksam macht – wie in dieser Geschichte:
Eine junge Ehefrau möchte einen Rinderbraten kochen. Sie teilt den Braten und schmort jede der beiden Hälften in einem eigenen Topf. Der Ehemann fragt erstaunt: „Warum teilst du denn den Braten in zwei Hälften und schmorst jede der beiden Hälften in einem eigenen Topf?“ Sie antwortet: „Das macht man doch so. Das habe ich von meiner Mutter so gelernt. Die macht das auch immer so.“ Bei nächster Gelegenheit fragt der Mann seine Schwiegermutter, warum sie den Rinderbraten teile und in zwei Töpfen zubereite. Sie antwortet: „Das macht man doch so. Das habe ich schon immer so gemacht. Das habe ich von meiner Mutter so gelernt.“ Das junge Ehepaar besucht die Oma, die sich über den Besuch sehr freut. Der junge Ehemann schildert die Situation mit dem Rinderbraten und fragt, warum sie den Braten immer geteilt hätte. Da lacht die Oma und sagt: „Habt ihr etwa immer noch keinen großen Topf, in den der Braten ganz hineinpasst?“