Vielfach stellen wir uns den Verlauf unseres Lebens vor, wie das Rinnen des Sandes durch eine Sanduhr. Zu Beginn des Lebens ist der gesamte Sand in der oberen Kugel und rieselt dann unaufhaltsam in die untere Kugel, solange, bis der gesamte Sand unten angekommen ist. Dann ist unser Leben vorbei.
In diesem Bild haben wir gar keinen Einfluss auf den Verlauf unseres Lebens, es zerrinnt einfach, das gesamte Leben, unser Schicksal ist vorbestimmt und wir haben uns ihm zu ergeben.
Doch es stellt sich die Frage: wie können wir selbst, aus eigener Kraft unser Leben aktiv gestalten? Wie können wir selbst Lebenskräfte entwickeln, die uns stärken und die es uns ermöglichen, unser Dasein durch eigene Vorstellungen zu beleben, um dem Rinnen des Sandes in der Sanduhr entgegenzuwirken?
Aber was ist das überhaupt: das Lebendige? Was macht die Materie lebendig? Aristoteles bezeichnete die Seele als den Quell des Lebendigen:
Die Seele ist die Ursache und der Anfang des lebenden Körpers.
Aristoteles
Dabei ist nach Aristoteles die Seele nicht fassbar, nicht messbar. Sie ist immateriell und belebt die an sich leblose organische Materie – die Pflanzen, die Tiere und uns Menschen. Sie verleiht uns Menschen unsere Lebenskraft, macht unser Leben einzigartig und gibt uns unsere Identität.
Aber halt! Kann es so etwas wie die Seele überhaupt geben? – etwas, das wir nicht anfassen, nicht unmittelbar sehen oder messen können? Seit dem Zeitalter der Aufklärung ist für eine solche immaterielle Vorstellung einer Seele immer weniger Platz. Stattdessen hat sich mehr und mehr ein Materialismus durchgesetzt. Danach gibt es nur das, was wir direkt sehen, was wir messen, was wir mit dem Verstand unmittelbar erklären können. So kommen heute die Naturwissenschaftler, die Psychologen, die Mediziner aber auch die Soziologen, Pädagogen und Philosophen weitgehend ohne den Begriff der Seele aus.
Doch die Frage bleibt: Was ist das Lebendige? Was macht das Lebendige aus? Ich möchte es im Folgenden mit Aristoteles halten und die Seele als Lebensquell bezeichnen. Weiter greife ich die Frage auf, wie die Seele die Natur belebt, und speziell wie wir Menschen unser Leben bewusst nach den seelischen Gesetzmäßigkeiten ausrichten, befreien und bereichern können.
Der Wesenskern
Also was soll das sein: die Seele? Was macht sie aus? Wenn sie der Quell des Lebens ist, so muss sie eine Kraft beinhalten, die uns von innen heraus erfüllt, die in uns lebt, die uns antreibt, die uns ausrichtet und prägt. Die treibende Kraft muss aus einer tiefen Sehnsucht resultieren, aus einem Wunsch, einem Bedürfnis, das wir durch unser Sein, durch unsere Persönlichkeit zu einer Lösung bringen wollen. Und dieses Bedürfnis ist so stark, dass es unseren gesamten Körper erfasst und durchdringt.
Das Bedürfnis erfüllt uns von Innen. Es ist nichts Äußeres – es ist nichts zu essen oder zu trinken, es ist nicht die Luft, die wir zum Atmen brauchen, es ist kein Smart Phone, kein Auto, kein Haus, es ist keine Meinung oder Ansicht, die wir uns über eine Sache machen. Es ist kein Ding, keine Sache, kein „Was“, das wir brauchen oder gerne hätten. Sondern es ist ein „Wie“ – wie wir etwas machen, wie wir etwas tun. Es wird hervorgerufen von den inneren oder seelischen Grundbedürfnissen, die in uns leben, die uns erfüllen, die uns prägen, die in unserem Körper zu einem Ausdruck drängen. Ich möchte neun seelische Grundbedürfnisse unterscheiden:
- Orientierung
- Wesentlichkeit
- Transzendenz
- Eigenständigkeit
- Klarheit
- Soziale Verbundenheit
- Neuausrichtung
- Aktivität
- Ordnung
Dabei sind die seelischen Grundbedürfnisse erst einmal universell. Sie existieren unabhängig von uns Lebewesen. In unserer Seele bekommen diese neun Grundbedürfnisse einen spezifischen Ausdruck. Sie bestimmen einerseits, was uns Individuen als Persönlichkeit ausmacht, was wir als Persönlichkeit wirklich wollen. Andererseits bestimmen sie unsere Persönlichkeitseigenschaften, wie sie in uns veranlagt und ausgeprägt sind und wie wir die entsprechenden seelischen Bedürfnisse zu einer Lösung bringen.
So sind diese neun seelischen Grundbedürfnisse in jedem Menschen unterschiedlich veranlagt und kommen zu einem ganz individuellen Ausdruck. Doch dabei gibt es stets ein dominantes Bedürfnis, das einen Menschen maßgeblich prägt – den Wesenskern. Und indem wir diesen Kern erkennen und ihn in unserem Leben, in unseren täglichen Aufgaben bewusst zu einem Ausdruck bringen, können wir unsere Lebenskräfte gezielt aktivieren.
Dafür haben wir zuerst einmal unserem Wesenskern auf die Schliche zu kommen – also unserer zentralen Persönlichkeitseigenschaft, der Fähigkeit, die uns als Person besonders ausmacht, die uns besonders leicht von der Hand geht, die Tätigkeit, bei der wir die größte Freude empfinden. Für den einen ist es das aufmerksame Beobachten, einem anderen liegt das Konkretisieren einer Sache auf den Punkt, dem nächsten das Finden neuer Ideen oder das Treffen einer Entscheidung, Klären eines Problems, Vermitteln einer Information, Definieren von Zielen, das freudige Machen und Tun oder das Koordinieren eines Miteinanders…usw. Und haben wir den Wesenskern aufgespürt, dann richten wir unsere anderen Persönlichkeitseigenschaften nach ihm aus, so dass der Kern zu einem möglichst guten Ausdruck kommt. Einen methodischen Weg für das Vorgehen finden Sie in dem Artikel: Von der inneren zur äußeren Ordnung.
Doch betrachten wir ein konkretes Beispiel: einen Lehrer.
Sein Wesenskern sollte es sein, etwas vermitteln zu wollen. Damit er diese Aufgabe gut erledigen kann, braucht er auch weitere Persönlichkeitseigenschaften. Zuerst ist natürlich erforderlich, dass der Lehrer den Lehrstoff aus dem Eff-Eff beherrscht, dass die Lehrinhalte für ihn selbst völlig klar sind. Als nächsten Schritt beobachtet er die Schüler in seiner Klasse genau und stellt sich die Frage: Wie setzt sich die Klasse zusammen? Wo stehen die Schüler mit dem Lernen gerade? Was habe ich ihnen als nächsten Schritt zu vermitteln? Welchen konkreten Lehrinhalt greife ich auf? Und weiter: Wie ist der Lehrstoff aufzubereiten, so dass er bei den Schülern möglichst verständlich ankommt? Wie habe ich die Unterrichtsstunde konkret zu gestalten, damit das Lernen für die Schüler erfolgreich wird und auch Freude macht? Durch gezielte Fragen deckt der Lehrer diese Aspekte ab, und mit den Antworten bringt er sein zentrales Bedürfnis – etwas zu vermitteln – immer besser zum Ausdruck. Mit der Zeit beherrscht er seinen Beruf, dann weiß er um den Wert seiner Lehrtätigkeit, dann kann er seine Lehrinhalte souverän und authentisch weitergeben, dann wird er zu einer eigenständigen Lehrerpersönlichkeit, in gewissem Sinne unabhängig von dem Lehrplan.
Die folgende Abbildung stellt den Zusammenhang graphisch dar:
Der Wesenskern und die neun seelischen Bedürfnisse
Der mittlere Kreis repräsentiert den Wesenskern – also am Beispiel des Lehrers, die Sehnsucht etwas zu vermitteln. Rundherum sind die Kreise mit den anderen acht seelischen Bedürfnissen angeordnet. Diese werden von der zentralen Persönlichkeitseigenschaft für ihren Zweck genutzt und auf das Ziel ausgerichtet. Zusammen bilden sie sozusagen den Methodenkoffer und bestimmen in ihrem Zusammenspiel, wie ein Ziel erreicht werden kann, also in unserem Beispiel, wie der Lehrer etwas vermittelt, wie er die Schüler in der Klasse beobachtet und sich Orientierung verschafft, wie er zum Wesentlichen vordringt, also jenem Lehrinhalt, den er den Schülern als nächstes vermitteln will, und so weiter. Der große umfassende Kreis steht für die verbindende Ordnung, die das wirksame Zusammenspiel und den Ausgleich zwischen den einzelnen Bedürfnissen ermöglicht.
Der Veränderungsprozess
Bei dem Vorgehen koordinieren wir unsere verschiedenen seelischen Bedürfnisse, die in ihrem Zusammenwirken einen allgemeinen Entwicklungs- oder Veränderungsprozess beschreiben (siehe auch: der Gesprächsprozess). Als Resultat entsteht eine innere Ordnung, in der sich unsere verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften konstruktiv ergänzen und unterstützen, um unseren Wesenskern zu einem Ausdruck zu bringen. Und mit der inneren Ordnung schaffen wir auch eine Ordnung im Äußeren: so können wir in einer Situation ein konkretes Anliegen, ein „Was“ aufgreifen und durch das „Wie“ zu einer Lösung bringen – also durch die Ausrichtung nach dem Veränderungsprozess. Das Resultat ist dann wieder ein „Was“ – die durch die Aktivität neu ausgerichtete Situation.
Eine Brücke zum Miteinander
Mit der Ausrichtung auf das „Wie“ schlagen wir auch eine Brücke zum Miteinander. Betrachten wir dazu ein Beispiel:
Drei Personen sitzen um einen Tisch und in der Mitte liegt ein Apfel. Jeder der Anwesenden hat jetzt das äußere Bedürfnis, den Apfel zu bekommen. Jeder will den Apfel haben. Doch wenn wir uns jetzt nur von dem leiten lassen, „Was“ wir wollen, dann betrachten sich die drei Personen sofort als Konkurrenten. Denn alle drei wollen ja den Apfel haben und es liegt nun mal nur einer auf dem Tisch. Auf dieser Ebene, kommen wir wohl nicht zu einer gütlichen Lösung. Vielleicht kommt es zu einem Streit und der Gewinner isst den Apfel, während die Verlierer leer ausgehen und schmollen.
Berücksichtigen wir jetzt das innere Bedürfnis und fragen wir uns: Wie können wir das Dilemma lösen? Vielleicht teilen die Personen den Apfel, vielleicht geht einer einkaufen oder in den Garten und holt noch weitere Äpfel, so dass jeder einen bekommen kann oder vielleicht fällt den dreien noch eine ganz andere Lösung ein. Wie auch immer. Indem wir nicht in den äußeren Bedürfnissen, in dem „Was“ verhaften, sondern uns fragen: „Wie“ können wir gemeinsam die Situation lösen, so dass es für jeden passt, schaffen wir einen Bezug zum Miteinander. Die gemeinsam gefundene Lösung verbindet die Anwesenden. Sie ist nicht materiell. Wir können sie nicht in die Hand nehmen. Es ist kein äußerer Wert. Die Lösung ist ein Gedanke, ein innerer Wert und der richtet die Situation aus, so dass es alle Beteiligte mittragen können.
Fazit
Indem wir unseren Wesenskern erkennen und unser Leben bewusst danach ausrichten, werden wir uns einerseits der Strukturen in unserer Seele immer bewusster – es entsteht eine immer konkrete Vorstellung, wie die einzelnen seelischen Bedürfnisse in uns veranlagt sind und mit jeder neuen Aufgabe formen und entwickeln wir die entsprechenden Persönlichkeitseigenschaften weiter. Und andererseits werden wir aktiv, werden zu Gestaltern unseres Lebens, zu eigenständigen und freien Menschen, die konkrete Aufgaben in ihrem Umfeld aufgreifen, sie zu tragfähigen Lösungen führen und für die Resultate bereitwillig die Verantwortung übernehmen – sei es nun beruflich oder privat. Auf diese Weise können wir selbst Lebenskräfte aktivieren, unser Sein freudig und erfolgreich gestalten und so dem unaufhörlichen Rinnen des Sandes in der Sanduhr entgegenwirken. Es ist ein Weg zum erfüllten Leben. Das sagte schon Leo Tolstoi:
Nur in der Seele findet der Mensch die Kraft zur Erfüllung seiner wirklichen Bestimmung in der Welt.
lEO tOLSTOI